
Neven Subotić im Interview: "Ich habe mich gefragt, warum diese Welt so ungerecht ist"
Schon zu aktiven Zeiten baute Neven Subotić eine eigene Stiftung auf, die Menschen in Krisenregionen sauberes Trinkwasser zur Verfügung stellt. Hier spricht er über seine Brüder im Meisterschaftskampf und Massensterben in Äthiopien.
In der Serie "Nachspielzeit" sprechen Bundesliga-Legenden jeden Freitag über ihr Leben nach dem Fußball.
Neven Subotić, was hat Sie dazu motiviert, 2012 die "Neven Subotic Stiftung" zu gründen?
Neven Subotić: Ich habe mich schon in den Jahren vorher für verschiedene gemeinnützige Organisationen eingesetzt – als ich 2008 von Mainz nach Dortmund wechselte, fand ich mit "Kinderlachen e.V." so einen Verein noch bevor ich überhaupt eine eigene Wohnung hatte.
Klar, das war cool, das war auch sinnvoll, aber ich fragte mich irgendwann, wie viel Einfluss ich mit solchen Botschaftertätigkeiten wirklich ausübte. Für die Öffentlichkeit hat das eine Wirkung, wenn der Profifußballer im Kinderkrankenhaus Stifte und Schals verteilt, aber eigentlich war das doch im Kern immer sehr wenig, das nur nach viel aussah. Das hat sich mit meinen eigenen Ansprüchen nicht gedeckt. Ich wollte etwas machen, auf das ich auch wirklich stolz sein konnte.
Wie ging es weiter?
Ich tauschte mich darüber mit meinen Freunden aus, die mir schließlich rieten, eine eigene Stiftung zu gründen, statt weiter zu kritisieren und zu zweifeln. Die Idee gefiel mir.
So etwas ist in der Welt des Spitzenfußballs eher selten. Wie sind Sie damit klargekommen?
Ich war schon immer ein Beobachter, kein Bewerter. Ich fand es spannend, mich in zwei Welten zu bewegen. Auf der einen Seite der Fußball, wo Geld keine Rolle spielt, und die wichtigsten Fragen lauten: Wer trägt welche Klamotten, wer fährt welches Auto, wer hat welchen Noten im Kicker und welcher ist der leckerste Italiener in der Stadt?
Auf der anderen Seite mein Alltag außerhalb des Platzes, wo ich mich gefragt habe, warum diese Welt so ungerecht ist und wie es sein kann, dass so viele Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser oder Bildung haben. Ich bin ein sachlicher Typ und versuche Lösungen zu finden. Das, denke ich, hat mir dabei geholfen, in diesem Zweispalt nicht verrückt zu werden und nicht zu verbittern.
In Ihrer Hochzeit mit Borussia Dortmund galten Sie als einer der besten Verteidiger in Europa. Welche Qualitäten als Fußballer haben Ihnen bei der Arbeit mit der Stiftung geholfen?
Sicher meine Arbeitsmoral, die mich dabei unterstützt hat, aus meinem überschaubaren Talent das meiste herauszuholen. Und die Fähigkeit, mit der Isolation und Einsamkeit nicht nur klarzukommen, sondern diese auch zu nutzen. Als Profi arbeitet man zwar viel im Team, ist allerding auch viel mit sich alleine beschäftigt und muss sich selbst motivieren. Ob im Krafttraining, bei der Reha oder im Hotel vor dem nächsten Auswärtsspiel.
Heute verbringe ich viel Zeit im Homeoffice. Diese Zeit kann man nutzen oder eben nicht. Was mich als Fußballer fasziniert hat, war der ständige Wettkampf. Dieses Überwinden von Hürden, das Mindset der dauerhaften Verbesserung. In einer Arbeit, die sich damit beschäftigt, etwas gegen die riesige Not auf der Welt zu tun, ist das ebenfalls sehr hilfreich. Über diese Arbeit und Unterstützung sprechen möchten viele, anstrengend wird es erst, wenn man wirklich etwas tut. Als Fußballer habe ich mir angeeignet, mit Widerständen klarzukommen, Druck auszuhalten. Bei jedem neuen Projekt erwarte ich, dass es anstrengend wird. Es würde mich eher überraschen, wenn es nicht so wäre.

Ich vermisse bei dieser Aufzählung die Erfahrung als Teamplayer.
Bei diesem Vergleich bin ich immer etwas vorsichtig. Jede Firma würde sich gerne mit einer funktionierenden Fußballmannschaft identifizieren, aber wenn im Büro eine Atmosphäre wie im Stadion herrschen würde, hätten wir Verhältnisse wie in "The Wolf of Wall Street". Wo sonst jubeln 80.000 Menschen, wenn man seinen Job erledigt, wo sonst schreit einem der Chef in der Pause aus einem Meter ins Gesicht? Ich habe mir das Wissen über Teamfähigkeit außerhalb des Fußballs eher über Bücher angeeignet. Das war sinnvoller.
Kommen wir zu den Inhalten Ihrer Stiftung, die seit 2023 "well:fair foundation" heißt. Wenn Sie ein Grundschulkind fragen würde, was Sie da eigentlich machen, was würden Sie antworten?
Wir helfen Menschen, Zugang zu Trinkwasser und Toiletten zu bekommen. Sauberes Wasser ist ein Menschenrecht und der Zugang dazu die Grundlage für ein gesundes und würdevolles Leben. Und wir helfen Kindern dabei, zur Schule gehen zu können, weil sie nicht jeden Tag sechs Stunden lang unterwegs sein müssen, um Wasser zu holen. Das ist leider für mehr als 700 Millionen Menschen auf der Welt noch bittere Realität.
Sie haben Millionen verdient, wurden Meister mit dem BVB, standen im Champions-League-Finale – und beschäftigen sich heute hauptberuflich mit großen sozialen Katastrophen und Nöten, lernen regelmäßig Menschen kennen, die alles verloren haben. Wie schafft man es, dabei den Kopf über Wasser zu halten?
Ich habe das von herausragenden Menschen lernen dürfen. Die Kunst besteht darin, sich bei all dem Leid nicht selbst in den Fokus zu stellen. Klar, man muss sich selbst schützen, aber was ich in dem Moment fühle, wenn ich erfahre, dass Menschen gestorben sind, verhungert, verdurstet, ist in dem Fall nicht relevant. Meine Gefühle schaffen nicht die Realität.
Es geht darum, sich darauf zu konzentrieren, was ich verändern, wo ich konkret helfen kann. Im vergangenen November habe ich mich mit Mitarbeiter*innen unserer Stiftung in Tigray, im Norden von Äthiopien, getroffen, wo seit 2020 ein furchtbarer Bürgerkrieg herrscht, an dessen Folgen bereits ein Zehntel der dort lebenden Bevölkerung gestorben sind – das größte Sterben im 21. Jahrhundert.
Wir saßen in einem Raum mit zehn Menschen, viele von ihnen hatten Schwestern, Brüder, Eltern, Freunde oder Verwandte verloren. Und diese Leute schafften es trotzdem, die eigenen Emotionen nicht in den Vordergrund zu rücken, sondern eine Mentalität zu entwickeln, die sich grob so zusammenfassen lässt: Wir sind die Glücklichen, die noch am Leben sind, was können wir jetzt tun? Wir sind die Starken – welche Last können wir tragen? Von diesen Menschen lerne ich.
Wie sieht der Ablauf eines einzelnen Projektes konkret aus?
Zunächst geht es um Mittelbeschaffung und dafür muss irgendwer seine Spende abgeben. Wenn das Geld da ist, beginnen wir die Planung mit unseren Partnern vor Ort. Wo ist was wie möglich? Anschließend werden die nötigen Materialien organisiert, Personen mobilisiert. Kontakte zur zuständigen Gemeinde und den Partnern aufgebaut. Wenn alle Vorbereitungen getroffen sind, werden Brunnen gebohrt. Das dauert circa zwei bis drei Tage, die Bohrungen gehen bis in 200 Meter Tiefe. Von dort werden Pumpen und Leitungen verlegt, schließlich Entnahmestellen, die für jeden Menschen aus der Gemeinde innerhalb von 15 Minuten erreichbar sein sollen.
Außerdem kümmern wir uns darum, dass das die Qualität des Wassers entsprechend gut ist – wir wollen Gesundheit fördern, nicht herausfordern. Dazu kommen Sanitäranlagen für Mädchen und Jungen in den Schulen, außerdem müssen wir uns um Schulungen, Wartungen und das Management der Anlagen bemühen bzw. das Wissen vor Ort installieren. Und ganz am Ende steht dann die Zeremonie zur Einweihung.
Sie sind als Fußballer seit drei Jahren im Ruhestand. Was bedeutet Ihnen der Fußball heute noch?
Die Leute sind immer wieder erstaunt, wenn ich Ihnen sage, dass ich keine Bundesliga mehr schaue. Auch keine Champions League, keine Klub-WM. Was mich am Fußball weiterhin fasziniert, ist der verbindende Charakter. Wenn mich Menschen ansprechen und mir erzählen, wie sie auf den Meisterfeiern 2011 und 2012 gejubelt haben und was ihnen das bedeutet hat, macht mich das glücklich.
Das sind bedeutsame Werte, viel wichtiger als Grätschen, Tore, Titel, Prämien. Gleiches gilt für viele meine Mitspieler von damals, mit denen ich bis heute im Kontakt bin. Das sind meine Brüder und mit ihnen werde ich mich ewig verbunden fühlen. Und trotzdem gehe ich nicht mehr ins Stadion oder spiele für die Traditionsmannschaften. Dafür hätte ich auch keine Zeit.
Sie waren einer der Eckpfeiler jener Dortmunder Mannschaft, die unter Jürgen Klopp eine ganze Generation als Fußballfans geprägt hat. Bedeuten Ihnen diese sportlichen Erfolge nichts mehr?
Ich finde es wunderschön, dass ich diese Erfahrungen machen durfte. Aber im Großen und Ganzen: Was bedeuten denn da schon Tore und Siege auf dem Fußballplatz? Diese Erlebnisse sind ein Teil von mir und werden es immer bleiben, aber ich definiere mich eher über meinen Beitrag auf gesellschaftlicher Ebene. Da möchte ich etwas bewegen, das hat für mich eine größere Bedeutung als jede Meisterschaft und jedes Länderspiel.
Dazu fällt mir eine Geschichte ein: Vor einigen Jahren konnte ich vorm Training einen meiner Kollegen beobachten, wie er sich in der Kabine auf dem Handy ein Video mit seinen schönsten Toren und Dribblings anschaute. Ich sage nicht, wer das war, aber es war ein herausragender Spieler. Dieser Anblick hat mich traurig gemacht.
Ich gehe davon aus, dass Sie sich nicht Videos mit Titeln wie "Neven Subotić – Defending Skills" anschauen?
Ich habe einen achtjährigen fußballverrückten Neffen, für den schaue ich mir das gerne mal an. Das ist dann wie ein Videospiel, sage ich ihm. Nur schöner. Aber ich selbst brauche das nicht.
Sie waren 23 Jahre alt, als Sie Ihre Stiftung ins Leben riefen. Welche Pläne hegen Sie für die Zukunft?
Die Stiftung bleibt das A und O. Bis 2030 wollen wir eine Million Menschen mit unserer Arbeit erreichen. Dazu genieße ich es, dass ich erst vor kurzem gelernt habe, was es bedeutet, angekommen zu sein. Ich bin in meinem Leben 27-mal umgezogen, seit einem Jahr lebe ich in meiner Wohnung in Dortmund. Unter und über mir wohnen befreundete Familien. Ich liebe das Leben in Dortmund, ich liebe mein Viertel.
Und ich genieße es, selbst auf neue Menschen zuzugehen und sie anzusprechen. Früher als Profi, war ich davon genervt, wenn Menschen auf mich zukamen. All das ist für mich ein großer persönlicher Meilenstein.
Interview: Alex Raack
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