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- © DFL / Dave Merell
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60 Jahre Bundesliga

Marco Russ im Interview: "Ein Zufall hat mir vermutlich das Leben gerettet"

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Marco Russ führte Eintracht Frankfurt durch den Abstiegskampf bis in den Europapokal. Sein schwerster Gegner war der Hodenkrebs, den Russ erfolgreich bekämpfte. Heute ist er Video-Analyst und setzt sich dafür ein, dass Vorsorge und Prävention von Männerkrankheiten keine Tabuthemen mehr sind.

In der Serie "Nachspielzeit" sprechen Bundesliga-Legenden jeden Freitag über ihr Leben nach dem Fußball.

Marco Russ, Sie haben mehr als 300 Bundesligaspiele absolviert und gehen jetzt in Ihre fünfte Saison als Video-Analyst für Eintracht Frankfurt. Braucht man bei so viel Erfahrung überhaupt noch eine Ausbildung für diesen Job?

Marco Russ: Das Verständnis für das Spiel musste mir nach zwei Jahrzehnten Profifußball niemand mehr beibringen. Aber es hat seine Zeit gedauert, bis ich mich mit der zuständigen Software und der Technik angefreundet habe. Für uns Analysten gibt es auch viele Angebote zur Fortbildung, doch ehrlich gesagt ist dafür einfach keine Zeit. Aus guten Gründen: Weil die Eintracht so erfolgreich ist, haben wir sehr viele gegnerische Mannschaften, die es zu analysieren gibt.

Auf wie viele Spiele kommen Sie in einer Saison?

Aus ökonomischen Gründen bereiten wir uns auf die meisten Gegner mit Bild- und Videomaterial vor. Bei jedem Spiel vor Ort zu sein, ist nicht mehr zeitgemäß – gerade was den Aufwand betrifft. Außerdem ist das von DFL gestellte Material so umfangreich, dass sich damit besser arbeiten lässt. Persönlich vor Ort bin ich eigentlich nur noch dann, wenn uns der Gegner völlig unbekannt ist und ich mir einen Eindruck machen will.

Wie sieht Ihre Arbeit als Analyst konkret aus?

Vor jedem Spieltag bekommen wir das Bildmaterial, dafür werden die Spiele mittig aus der Totalen gefilmt. Dazu erhalten wir sämtliche Daten des Spiels: Jeder Pass von jedem Spieler, jedes Dribbling, Positionsdaten und so weiter. Wir filtern heraus, was wir haben wollen, bereiten das entsprechend auf und stellen es dem Trainerteam zur Verfügung.

Gab es Ihren jetzigen Beruf schon, als Sie vor über 20 Jahren Ihre Karriere als Spieler starteten?

Nein. Überhaupt war die Mannschaft rund um die Mannschaft bedeutend kleiner. Als ich 2004 meine ersten Spiele in der 2. Bundesliga machte, hatten wir einen Cheftrainer, zwei Trainerassistenten und drei Physiotherapeuten. Wenn Friedhelm Funkel uns den kommenden Gegner zeigen wollte, legte er eine DVD ein und wir sahen das komplette Spiel. Seitdem hat sich gerade in meinem Bereich enorm viel getan.

Wissen Sie noch, wer die Videoanalyse bei der Eintracht verankerte?

Das war Marcel Daum, der 2011 gemeinsam mit seinem Vater zu uns kam. Unter Niko Kovac haben wir in dieser Hinsicht noch mal einen Sprung gemacht.

Haben Sie als Spieler die Wirksamkeit der Analyse gespürt?

Die Vorteile liegen auf der Hand. Wenn man früher vom Trainer zu hören bekam, dass man schlecht gespielt hatte, war die Meinung doch sehr subjektiv. Seit es die Möglichkeiten der Videoanalyse gibt, kann man sich die eigenen Fehler klar vor Augen führen und daraus lernen. Wobei es nicht nur darum geht, die Schwächen aufzudecken, sondern vor allem die eigenen Stärken und den Nutzen für das nächste Spiel.

Welche Ergebnisse Ihrer Arbeit haben Sie in der vergangenen Saison erkennen können?

Ich arbeite intensiv an unseren Standardsituationen. Da waren wir noch vor zwei Jahren in der Offensive eine der schwächsten Mannschaften. In der zurückliegenden Saison lagen wir bei den Werten auf Platz 3. Gleichzeitig gehört es aber auch zum täglich Brot, dass man sich sehr viel den Kopf zerbricht und trotzdem kein Ergebnis erkennt. Das ist ein stetiger Prozess.

Gibt es eigentlich etwas, das Ihnen fehlt aus der Zeit als aktiver Fußballer?

Das Kabinenleben. Diese Leichtigkeit des Seins, wenn man mit einem Haufen erwachsener Jungs zusammen ist und Blödsinn machen kann. Ich denke, das geht den allermeisten Ex-Spielern so. Ansonsten hatte ich aufgrund meiner Achillessehnenverletzung viel Zeit, mich mit dem Karriereende zu beschäftigen. Dazu kam die Corona-Pandemie, das hat mir den Abschied damals erleichtert.

Keine Sehnsucht nach 50.000 Frankfurtern, die Ihren Namen schreien?

Das war eine wunderschöne Zeit, aber ich habe es – ob in der Bundesliga oder in Europa – voll ausgekostet und bin deshalb mit mir im Reinen.

Die größte Herausforderung Ihres Lebens fand ausgerechnet im Abstiegskampf der Saison 2015/16 statt und hatte nichts mit Fußball zu tun.

Weil mein Mitspieler Änis Ben-Hatira in den sozialen Medien Fotos hochgeladen hatte, die ihn mit Spritzen zeigten, ging das Gerücht rum, bei Eintracht Frankfurt werde gedopt. Daraufhin wurden wir in der Folgezeit gleich mehrfach von der Nationalen Anti Doping Agentur (NADA) kontrolliert. Ich sogar innerhalb von zweieinhalb Wochen dreimal. Einen Tag vor dem Relegationshinspiel gegen den 1. FC Nürnberg wurde ich ins Büro unseres damaligen Managers Heribert Bruchhagen gerufen, wo man mir mitteilte, dass bei meinen Kontrollen ein deutlich erhöhter Beta-HCG-Wert festgestellt worden war.

Marco Russ ist heute Video-Analyst bei Eintracht Frankfurt - IMAGO/Florian Ulrich

Wurden Sie des Dopings bezichtigt?

Ich beteuerte meine Unschuld und die Klubverantwortlichen glaubten mir auch. Bei einer Untersuchung beim Urologen erfuhr ich dann den Grund für den erhöhten Wert: Ich hatte Hodenkrebs.

Wie sind Sie damals mit dieser Diagnose umgegangen?

Zunächst erstaunlich entspannt. Einen Tag später führte ich meine Mannschaft als Kapitän auf dem Rasen. Ich werde nie vergessen, wie unsere Fans ein Banner in der Kurve entrollten, auf dem stand: „KÄMPFEN UND SIEGEN MARCO“. In dem Spiel schoss ich auch noch Eigentor. Wenige Tage später wurde mir der rechte Hoden samt Samenstrang entfernt und eine Prothese aus Silikon eingesetzt. Das Rückspiel verfolgte im Krankenhausbett. Glücklicherweise mit dem besseren Ende für uns.

Wie ging es damals für Sie weiter?

Den Sommer 2016 verbrachte ich mit Chemotherapien, wobei die zweite Therapie wirklich heftig war. Von da an ging es nur darum, so schnell wie möglich wieder auf dem Platz zu stehen.

Bilder zeigen Sie zur Eröffnung der neuen Saison mit einer Glatze.

Die Leute sollten sehen, dass ich den Krebs überstanden hatte – auch wenn ich vielleicht noch nicht so aussah.

Ihr Comeback feierten Sie am 28. Februar 2017 beim Pokalspiel gegen Arminia Bielefeld.

Das war ein unbeschreibliches Gefühl. Das Spiel wurde zwar eine Minute nach meiner Einwechslung abgepfiffen, aber das war mir egal. Fast noch intensiver habe ich die Reaktionen auf meine Rückkehr in Erinnerung, aus ganz Deutschland bekam ich Nachrichten und Unterstützung.

Seitdem sind Sie eines der prominenten Gesichter im Kampf gegen die sogenannten Männerkrankheiten. 2021 erschien Ihr Buch „Kämpfen. Siegen. Leben.“ Wie gehen Sie mit dieser Rolle als Botschafter um?

Wenn ich helfen kann, dann tue ich das gerne. Gerade, wenn es darum geht, Männer dazu zu ermutigen, rechtzeitig zur Vorsorge zu gehen. Bei mir wurde der Krebs damals durch Zufall entdeckt, das hat mir vermutlich das Leben gerettet. Hoden- oder Prostatauntersuchungen sind immer noch Tabuthemen und das muss sich ändern. Deshalb spreche ich offen in Interviews oder bei Veranstaltungen darüber, deshalb das Buch. Gemeinsam mit meiner Freundin schaue ich mich aktuell nach einer guten Idee für eine gemeinnützige Aktion um. Eine davon ist zum Beispiel der Plan, krebskranken Kindern einen Besuch im Kino zu ermöglichen. Im Kampf gegen die Krankheit geht es vor allem darum, die Hoffnung und den Glauben zu bewahren.

Für Aufsehen sorgte Ihr Auftritt in der TV-Sendung "Showtime of my Life – Stars gegen Krebs". Worum ging es da?

Die Idee dahinter war: Wenn wir uns vor einem Millionenpublikum nackig machen können, sollte sich auch niemand scheuen, zur Krebsvorsorge zu gehen. Gleichzeitig erzählte jeder von uns Teilnehmern seine Geschichte. Ich habe da viele tolle Menschen kennengelernt und konnte hoffentlich dazu beitragen, dass das Thema Hodenkrebs noch mehr in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.

Marco Russ absolvierte zwischen 2006 und 2019 304 Bundesliga-Spiele - imago sportfotodienst

Ihre Diagnose ist jetzt mehr als neun Jahre her. Haben Sie Angst, dass der Krebs wiederkommt?

Angst nicht, aber ich bin hellhöriger geworden, was meine Gesundheit angeht. Früher als Profi habe ich versucht, Schmerzen oder Wehwehchen zu ignorieren. Heute höre ich besser auf die Signale meines Körpers.

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

Ich denke, ich werde zeitnah meinen Trainerschein machen, wobei ich mich auf lange Sicht eher als Co-Trainer sehe und nicht an der Front. Fußball ist und bleibt mein Leben. Und ich bin dankbar über alles, was ich in diesem Leben erleben darf.

Interview: Alex Raack

In der "Nachspielzeit" sind bisher erschienen:

Markus Babbel: "Ich will in Wacken auflegen"

Frank Rost: "Wir haben einen Hengst 'Van der Vaart' genannt"

Jimmy Hartwig: "Bertold Brecht? Wo hat der denn gespielt?"

Uli Borowka: "Werde mein Leben lang gegen die Sucht kämpfen"

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