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- © DFL / Dave Merell
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60 Jahre Bundesliga

Martin Meichelbeck im Interview: "Ich arbeite mit Profis, die unter einem Shitstorm leiden"

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Martin Meichelbeck prägte als Abwehrchef die erfolgreichste Zeit des VfL Bochum nachhaltig mit, heute arbeitet er neben seiner Management-Tätigkeit als Psychologe/Sportpsychologe. Er sagt: Noch immer schenken die Clubs diesem Thema nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient hätte.

In der Serie "Nachspielzeit" sprechen Bundesliga-Legenden jeden Freitag über ihr Leben nach dem Fußball.

Geschäftsbereichsleiter Sportmedizin/Prävention einer Kette von Krankenhäusern und dazu eine eigene Praxis für psychologische Beratung und Sportpsychologie?

Martin Meichelbeck: Mir war schon sehr früh klar, dass der Fußball nur einen begrenzten Abschnitt meines Lebens bestimmen würde. Als ich mit 21 meinen ersten Profivertrag erhielt, begann ich parallel mit einem Studium. Mit Blick auf die Zeit nach der Fußballerlaufbahn, aber auch als geistigen Ausgleich. Zwölf Jahre war ich Fußballer, zwölf Jahre lang habe ich studiert. Für mich war es einfach eine Selbstverständlichkeit schon während der Laufbahn eine Basis für die Zukunft zu legen.

Sahen das Ihre Kollegen auch so?

Das will ich nicht beurteilen. Außerdem ist das ja auch eine sehr individuelle Entscheidung. Was man tut und wie man es tut, hängt von den eigenen Interessen ab, sicherlich auch vom Intellekt. Es ist eine besondere Situation, in der wir Fußballer stecken. Eine wirtschaftliche Notwendigkeit, sich fortzubilden, besteht ja akut nicht, im Vergleich zum Rest der Bevölkerung verdient man sehr gut. Auch wenn ich damals nur ein Bruchteil von dem bekommen habe, was heute möglich ist.

Hatten Sie nie die Möglichkeit, einen richtig lukrativen Vertrag zu unterschreiben?

Zwei, dreimal hatte ich ein Angebot, zu Aston Villa in die Premier League zu wechseln. Aber ich entschied mich jedesmal dagegen. Ich fühlte mich wohl in Bochum, beruflich und privat. Heute würde ich es vermutlich trotzdem wagen, allein schon, um die Erfahrung zu sammeln und die Englischkenntnisse zu verbessern. Aber ich bin stolz darauf, die erfolgreichste Zeit der Bochumer Vereinsgeschichte aktiv mitgestaltet zu haben (der VfL wurde in der Saison 2003/04 Fünfter und qualifizierte sich damit für den UEFA-Cup, d. Red.).

Ihr Trainer damals war Peter Neururer. Ein Mann, dem man nachsagt, eine besonders gute Menschenkenntnis zu haben.

Was absolut zutrifft. Peter Neururer habe ich als sehr intelligenten Trainer kennengelernt, der in Sachen Menschenführung und Kommunikation große Stärken hat. Er ist Zeit seiner Karriere immer etwas unterschätzt worden, dabei war er ein sehr guter Trainer und hat wunderbar zum VfL gepasst.

Peter Neururer im Austausch mit seinem damaligen Abwehrchef Martin Meichelbeck - Copyright: imago/Sven Simon

Womit wir bei Ihrer zweiten Karriere als Sportpsychologe wären.

2010 beendete ich meine Laufbahn bei der SpVgg Greuther Fürth, die darauffolgende Saison begleitete ich dann schon als sportpsychologischer Coach. Der damalige Präsident Helmut Hack hat mich in dieser Zeit sehr geprägt und wurde zu einem Mentor – gerade in betriebswirtschaftlichen und strukturellen Themen. Unter ihm bekleidete ich mehrere Posten, zuletzt war ich Teil der Geschäftsführung. Die zehn Jahre als Leiter Medizin, Sportwissenschaftler und Sportpsychologe in Fürth waren wirklich in jeder Hinsicht sehr spannend und ich konnte mich als Führungskraft gut entwickeln.

2020 wechselten Sie zu Borussia Mönchengladbach. Ihr Arbeitstitel dort: „Leiter Medizin und Prävention“. Was war Ihre Aufgabe dort?

Letztlich die psychologische und medizinische Begleitung der Spieler und der Trainer sowie die Leitung des medizinischen und sportwissenschaftlichen Staffs und der Ausbau der vorhandenen Strukturen. Das Ziel, einfach formuliert: Psychische und physische Stabilität, Gesundheit und Optimierung. In Mönchengladbach blieb ich vertraglich gesehen vier Jahre, dann trennten sich unsere Wege. Da stellte sich mir die Frage, ob ich im Fußball bleiben wollte. Ich hatte verschiedene Anfragen aus der ersten und zweiten Liga, aber dann kam das Angebot den Geschäftsbereich „Sportmedizin und Prävention“ der Knappschaft-Kliniken zu leiten.

Eine neue Herausforderung, außerdem konnte ich dann meinen Plan von der eigenen Selbstständigkeit in die Tat umsetzen: Die Eröffnung einer Praxis für psychologische Beratung, Supervision, Sportpsychologie und Personal Training. Drei Tage die Woche bin ich an der Klinik, den Rest der Woche in meiner Praxis. Dank meiner Klienten ist der Bezug zum Profifußball also weiterhin vorhanden. Innerhalb meiner Selbstständigkeit bin auch noch Partner bei einer Personal- und Strategieberatung im Profifußball.

28.07.2019 - Fussball - Saison 2019 2020 - 2. Fussball - Bundesliga - 01. Spieltag: SpVgg Greuther Fürth Kleeblatt - FC Erzegbirge Aue Wismut - / - DFL regulations prohibit any use of photographs as image sequences and/or quasi-video - Martin Meichelbeck Direktor Sportwissenschaften Sportpsychologie Medizin Innovation SpVgg Greuther Fürth *** 28 07 2019 Soccer Season 2019 2020 2 Soccer Bundesliga 01 Matchday SpVgg Greuther Fürth Kleeblatt FC Erzegbirge Aue Wismut DFL regulations prohibit any use of photographs as image sequences and or quasi video Martin Meichelbeck Director Sports Sciences Sports Psychology Medicine Innovation SpVgg Greuther Fürth - Sportfoto Zink / WoZi, via www.imago-images.de

Sie haben in einer Zeit in der Bundesliga gespielt, da psychologische Betreuung für viele Vereine noch ein Fremdwort war. Wie haben Sie das damals erlebt?

Als ich 2010 mein Psychologie-Studium beendete, war ich mir ziemlich sicher, dass das die Zukunft im Leistungssport sein würde. Wenn irgendwann die körperlichen Ressourcen ausgereizt sind, bleibt ja nur noch die Psyche, an der sich arbeiten lässt. Doch noch immer steht das Thema nicht so im Fokus, wie es meiner Meinung nach sein müsste. In den Nachwuchsleistungszentren wird flächendeckend sportpsychologische Betreuung angeboten, bei den Profis ist das nur teilweise etabliert. Ich schätze, dass lediglich ein Viertel aller Erst- und Zweitligisten Sportpsychologen beschäftigen.

Wie ist das möglich in einer Welt, in der Selbstoptimierung zur täglichen Arbeit gehört?

Sicherlich lag das auch an der ein oder anderen schlechten Erfahrung. Zum Beispiel mit Mentaltrainern, die nicht kompetent genug waren und die seriöse Sportpsychologie damit in Verruf brachten. Es braucht im Fußball noch immer viel Aufklärungsarbeit. Dazu kommt, dass die Psychologie Arbeit an weichen Faktoren ist, der Profifußball jedoch weiterhin hart ergebnisorientiert ist. Dabei kann psychologische Betreuung, die fest in der Arbeit im Verein verankert ist, langfristig zu diesem Erfolg beitragen.

Mit welchen Kernthemen beschäftigt sich ein Sportpsychologe eigentlich bei der Arbeit in einem Bundesligaclub?

Es stört mich, dass es beim Thema Psychologie in der öffentlichen Wahrnehmung vornehmlich um die Arbeit an vermeintlichen Schwächen geht: Umgang mit Ängsten, Kompensation von Leistungsdruck, usw. Das ist ein wesentlicher Teil, aber im Leistungssport geht es vielmehr darum, die psychischen Ressourcen zu aktivieren und vergrößern. Ein Beispiel: Ein eher introvertierter Innenverteidiger bekommt von seinem Trainer gesagt, noch mehr mit seinen Mitspielern zu kommunizieren, scheitert aber regelmäßig daran. Der Psychologe kann ihn dabei unterstützen, die eigenen Schranken zu überwinden, um so ein noch besserer Spieler zu werden.

Wobei der Umgang mit Druck und Ängsten doch auch zum Alltag eines Profis gehört?

Ja, natürlich. Der Abstiegskampf ist im Fußball eines der größten psychologischen Themen. Gerade, was die Diskrepanz zwischen öffentlicher Wahrnehmung und eigenem Empfinden betrifft. Wenn es schlecht läuft, denken Fans und Medien oft: Die wollen ja gar nicht, die strengen sich nicht an. Dabei kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass jeder Fußballer Niederlagen und Abstiege verhindern will (Meichelbeck stieg mit dem VfL Bochum zweimal ab, d. Red.).

Doch in Extremsituationen ist die Angst vor Fehlern so groß, dass sie selbst einen erfahrenen Sportler lähmen kann. Erfolg im Fußball ist einfach sehr multifaktoriell. In Zeiten der Digitalisierung, wo sich im Sport sehr auf steife Themen wie Zahlen, Fakten, Daten fokussiert wird, vergessen wir oft, dass auch Bundesligaspieler hochsensible Persönlichkeitsmerkmale besitzen. Deshalb sind Trainer wie Jürgen Klopp oder Carlo Ancelotti auch so erfolgreich, da sie in der Beziehungsarbeit mit den Spielern große Stärken haben.

Was macht einen guten Trainer auf dieser Ebene aus?

Eine pauschale Antwort ist schwierig, dafür sind die Kader zu heterogen. Sprache, Intellekt, Persönlichkeit, Herkunft - jede Mannschaft ist anders. Wenn es ein Trainer schafft, in so einem Team zu jedem Spieler eine individuelle Bindung aufzubauen und dabei gleichzeitig einen festen Rahmen mit der Philosophie des Vereins zu vereinbaren, hat das meistens Erfolg. Ein guter Trainer arbeitet mit den Ressourcen seiner Spieler. Er sieht nicht die Defizite, sondern die Stärken und stellt dann die richtigen Fragen: Was braucht der Spieler, um optimal zu performen? Welche Rolle in meinem System passt zu ihm? Wie muss ich ihn führen?

Fußballer sind auch nur Menschen, üben allerdings einen sehr speziellen Beruf aus. Wie schätzt der Ex-Fußballer und Psychologe diesen Typ Mensch ein?

Es gibt bei Fußballern zwei wichtige Komponenten. Erstens die allgemein hohe Sensibilität und zweitens die Tatsache, dass sie in ihrer Persönlichkeit häufig narzisstisch veranlagt sind. Das hat seine Vor- und Nachteile. Auf der einen Seite sind sie sehr ehrgeizig und erfolgsorientiert, andererseits stehen die eigenen Bedürfnisse und die „Ich-Fixierung“ oft im Vordergrund. Man kann das häufig an äußeren Erscheinungsmerkmalen beobachten: Die Tattoos, die Frisuren, die Mode, die Darstellung in den sozialen Medien. Der ausgeprägte Imagegedanke ist unübersehbar.

Und wie geht man nun am besten mit diesen Persönlichkeiten um?

Als Trainerteam ist es wichtig, eine konstruktive Bindung zu den Spielern aufzubauen und das kostet Zeit. Das zentrale Element für einen Profifußballer, auch für Sportpsychologen, ist das Selbstvertrauen. Die innere Überzeugung, die eigenen Fähigkeiten gut einzubringen.

Sie haben die sozialen Medien angesprochen. Welche Rolle spielen die in punkto Selbstvertrauen?

Instagram und Co. haben die Spieler zu gläsernen Profis werden lassen. Wer sich auf dieses Spiel einlässt, bietet eine große Projektionsfläche für sämtliche Emotionen. Die Nachteile liegen auf der Hand. Ich arbeite regelmäßig mit Profis zusammen, die unter einem Shitstorm leiden und versuchen, damit klarzukommen. Der Fokus auf die negative Bewertung von außen kann den eigenen Selbstwert beeinträchtigen und daran gilt es zu arbeiten.

In 89 Bundesliga-Spielen für den VfL Bochum erzielte Martin Meichelbeck in den 2000er-Jahren vier Tore - imago/Ulmer

Ist Fußball auch deshalb so erfolgreich und für viele Menschen faszinierend, weil die Psyche auf so unterschiedliche Art und Weise eine Rolle in diesem Spiel spielt?

Absolut. 22 Individuen, jeder mit einer eigenen Persönlichkeit, jeder mit seiner eigenen Ausstrahlung. Dazu das ganze Drumherum: Die vielen Emotionen, Fans, Medien, Mitarbeiter, Sponsoren – das macht den Fußball für mich weiterhin sehr fesselnd und spannend.

Sie behaupten, dass in Sachen Psyche noch einiges an Ressourcen freigesetzt werden kann. Gibt es in dieser Hinsicht einen idealtypischen Spieler in der Bundesliga?

Joshua Kimmich ist für mich - ohne ihn persönlich zu kennen - scheinbar der Prototyp des psychisch stabilen Fußballers. Der macht jedes Jahr mindestens 60 Spiele, liefert konsequent ab, ist sehr ehrgeizig und will immer weiter an sich arbeiten. Dazu ist er ein grandioser Mittelfeldspieler. Die Diskussionen um seine Person in der letzten Saison habe ich nie verstehen können.

Ein Jahr vor Ihrem Karriereende nahm sich Robert Enke 2009 das Leben. Wie präsent sind solche psychischen Extremsituationen in Ihrer Arbeit?

Eine psychische Erkrankung und anschließender Suizid sind das Schlimmste, was passieren kann. In meiner Arbeit bzgl. psychischer Gesundheit geht es vor allem darum, präventiv vorzubeugen. In den Vereinen ist es daher wichtig, dass die Bedürfnisse und Probleme der Spieler, Trainer und Mitarbeiter ernst genommen werden. Wobei ich sagen muss, dass psychische Erkrankungen im Profifußball vergleichsweise seltener auftreten als im Rest der Bevölkerung – unter anderem, weil die Betreuung einfach besser und umfangreicher ist.

Entscheidend ist auch, nicht nur die Spieler selbst im Auge zu haben, sondern auch zu wissen, was im Umfeld los ist. Wenn die Partnerin oder der Vater eines Fußballers psychisch erkrankt ist, stellt das für den Spieler ebenfalls eine enorme Belastung dar. Es wäre großartig, wenn wir alle Antennen noch sensibler einstellen würden, doch im System Profifußball geht es in erster Linie um Leistung und Erfolg. Umso wichtiger, dass die Manager, Trainer und Spieler selbst vorbeugen und Strategien entwickeln, wenn es um ihre mentale Gesundheit und Stabilität geht.

Als Sie vor 15 Jahren in Ihren neuen Job starteten, gingen Sie davon aus, dass Psychologie eines der Themen der Zukunft im Sport sein würde. Wie sieht es heute aus? Was erwartet uns in den kommenden Jahren auf diesem Gebiet?

Im Zeitalter von Digitalisierung und Globalisierung wird es darum gehen, das eigene Nervensystem zu beruhigen und sich nicht zu sehr abhängig zu machen von den äußeren Umständen. Umso entscheidender wird es sein, in den Klubs sichere Zonen zu gestalten, wo sich Spieler, Trainer und Mitarbeiter bewegen können. Eine gute Kabine war damals schon wichtig und ist es heute umso mehr. Auf dem Platz wird es darum gehen, die Ressourcen unseres Gehirns noch effektiver für das eigene Spiel nutzen zu können: Handlungsschnelligkeit, peripheres Wahrnehmen, schnelle Regulation. Ich glaube nicht, dass die Spieler noch schneller laufen oder noch härter schießen können. Aber auf mentaler Ebene ist weiterhin sehr viel möglich.

Interview: Alex Raack

Martin Meichelbeck im Dress des damaligen Perspektivteams 2006 - imago/Uwe Kraft

In der "Nachspielzeit" sind bisher erschienen:

Markus Babbel: "Ich will in Wacken auflegen"

Frank Rost: "Wir haben einen Hengst 'Van der Vaart' genannt"

Jimmy Hartwig: "Bertold Brecht? Wo hat der denn gespielt?"

Uli Borowka: "Werde mein Leben lang gegen die Sucht kämpfen"

Tobias Rau: "Ich war naiv und hätte mich wehren müssen"

Richard Golz: "Verhandeln kann man lernen"

Marco Russ: "Ein Zufall hat mir das Leben gerettet"

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