Der neue Bundestrainer Julian Nagelsmann - © IMAGO/Schüler
Der neue Bundestrainer Julian Nagelsmann - © IMAGO/Schüler
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Aus der Bundesliga zum Nationaltrainer: Die taktische Entwicklung von Julian Nagelsmann

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Der DFB hat Julian Nagelsmann als neuen Bundestrainer verpflichtet. Der 36-Jährige ist seit 2016 Trainer im deutschen Profifußball. bundesliga.de wirft einen Blick darauf, wie er sich entwickelt hat und warum von ihm Spektakel-Fußball zu erwarten ist.

Julian Nagelsmann war als Spieler ein gelernter Innenverteidiger, doch er beendete seine Karriere mit gerade einmal 20 Jahren aufgrund von zwei schweren Knieverletzungen. Stattdessen schloss er sich im Januar 2008 der Jugendabteilung seines damaligen Clubs, dem FC Augsburg, an. Für die Fuggerstädter war er als Scout tätig, entschloss sich jedoch bereits im Sommer 2008 dazu, zu seinem zweiten langjährigen Jugendclub, der TSV 1860 München, zurückzukehren und dort als Co-Trainer in der Jugend zu arbeiten.

Nach zwei Jahren folgte der Schritt zur TSG Hoffenheim, wo er als Trainer aufgewachsen ist und 2011 zum ersten Mal eine Mannschaft als Cheftrainer übernahm. Als die Sinsheimer im Januar 2013 mit Marco Kurz einen neuen Trainer verpflichteten, wechselte der damalige U17-Trainer nach eineinhalb Jahren als Co-Trainer zu den Profis, die er bis zum Saisonende begleitete und dann wieder in die Jugendakademie zur U19 wechselte. Dort blieb er zweieinhalb Jahre, bis erneut ein neuer Trainer für die Profi-Mannschaft gesucht wurde – und die Wahl auf Nagelsmann fiel.

Bei der TSG wurde er mit gerade einmal 28 Jahren, 6 Monaten und 21 Tagen Cheftrainer eines Bundesligisten und somit der jüngste Bundesliga-Trainer jemals. 2019 schloss sich Nagelsmann dann RB Leipzig an. Zwei Jahre später wechselte er zum FC Bayern München, mit dem er die Bundesliga-Meisterschaft sowie zweimal den DFL-Supercup gewinnen konnte. Im März 2023 wurde er freigestellt. Nun übernimmt er die deutsche Nationalmannschaft.

Schon bei seinem Bundesliga-Debüt taktisch clever: Julian Nagelsmann - imago/MIS

Pressing-Fußball bei der TSG Hoffenheim

Obwohl sich die Anstellungen von Julian Nagelsmann und dem heutigen Nationaltrainer Österreichs Ralf Rangnick bei der TSG Hoffenheim nur für ein halbes Jahr überschnitten, ist ein gewisser Einfluss sofort erkennbar gewesen. Rangnick, der viereinhalb Jahre lang die TSG Hoffenheim trainiert, aus der Regionalliga in die Bundesliga geführt und dort etabliert hatte, beeinflusste den gesamten Verein in dieser Zeit enorm. So auch die Trainerausbildung.

Als Julian Nagelsmann im Februar 2016 die Bundesliga-Mannschaft der TSG Hoffenheim übernommen hat, führte er den offensiv begeisternden Pressing-Fußball fort, der von Rangnick etabliert und in der Folge in die Vereins-DNA übergegangen war. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen bewies sich Nagelsmann schon früh als Taktik-Genie und schaffte es so, die schwächelnden Hoffenheimer vom 17. Tabellenplatz zum Klassenerhalt zu führen. In seinen 13 Bundesliga-Spielen dieser Saison nutzte er fünf verschiedene Grundformationen und startete selten zwei Spiele in Folge gleich.

Diese taktische Flexibilität und die Gabe, jedem Gegner das Spiel durch Anpassungen schwer zu machen, behielt Nagelsmann bis heute bei. Jedoch hat sich sein Spiel seitdem mächtig verändert. Bereits in seiner ersten Saison als Cheftrainer ging er etwas weg vom Pressing-Fußball, der sehr an Ralf Rangnick erinnerte. Dabei warf er die Vereins-DNA nicht über den Haufen, veränderte sie aber etwas im Rahmen seiner persönlichen Ansichten.

Nagelsmann kombinierte hohes Pressing und schnelle Ballgewinne mit seinem eigenen Ansatz des Ballbesitzfußballs. Dabei blieb er bevorzugt beim schnellen, vertikalen Offensivspiel. Doch wenn der Gegner sich zurückzog und keine Kontermöglichkeiten zuließ, ging es ruhig nach vorne. Im nun fast dauerhaft gespielten 3-5-2 hatten vor allem die zentralen Mittelfeldspieler viele Freiheiten, während die Wingbacks dafür zuständig waren, den Ball nach vorne zu tragen, sollten keine Vertikalpässe im Zentrum möglich sein. Wingbacks, die Nagelsmann "Joker" nennt. Weil sie gegen den Ball zwar Verteidiger sind, offensiv aber wie Joker zusätzlich zum Angriff dazustoßen.

Mit dieser Kombination aus alter DNA, frischen Ideen und der optimalen Nutzung der Qualitäten seines Kaders führte Julian Nagelsmann die TSG Hoffenheim 2016/17 auf einen überragenden vierten Platz in der Bundesliga und damit in die Champions-League-Qualifikation. Nachdem er diese gegen den FC Liverpool verlor, ging es noch weiter nach oben: 2017/18 beendete Nagelsmanns Hoffenheim die Saison auf dem dritten Tabellenplatz, somit gelang die Qualifikation für die Champions-League-Gruppenphase. Bis heute waren das die erfolgreichsten Saisons der Hoffenheimer Vereinsgeschichte.

Nagelsmanns Weiterentwicklung bei Leipzig

Rangnick, der Nagelsmanns Entwicklung bei der TSG Hoffenheim so sehr beeinflusst hat, holte ihn 2019 schließlich als seinen eigenen Nachfolger nach Leipzig. Dort sah sich Nagelsmann erneut konfrontiert mit einem etwas mehr auf Pressing ausgerichteten Spiel. Das nahm er zum Anlass, um seine bisherige Entwicklung weg vom hohen Pressing und hin zum Ballbesitzspiel etwas aufzufrischen. Statt der in Hoffenheim zum Standard gewordenen Formation 3-5-2 probierte er auch das von Rangnick präferierte 4-2-2-2 aus und fand einen Weg, die Vorteile beider Formationen zu kombinieren.

Nagelsmann wechselte jetzt wieder regelmäßig zwischen verschiedenen Formationen, um die Stärken und Schwächen des Gegners am besten auszunutzen, ohne dabei aber die eigenen Spielprinzipien zu vernachlässigen, die in allen Spielsystemen gleich blieben. "Ich gebe meinen Spielern Muster vor, die für jede Grundstruktur und jede Phase des Spiels gelten. Es ist wichtig, dass meine Spieler die Prinzipien, die wir haben, am Wochenende auf dem Spielfeld umsetzen und sie dann auf den jeweiligen Gegner umstellen. Das macht uns weniger berechenbar", erklärte Nagelsmann dieses Vorgehen.

Auch in Leipzig ließ Nagelsmann sehr vertikalen Fußball spielen. Anstatt das Spiel konstant von einer Seite auf die andere zu verlagern, sollten seine Spieler frühzeitig vertikale Bälle ins Zentrum spielen und dort entweder kurz das Mittelfeld oder lang die Stürmer finden. Gegenläufige Bewegungen der verschiedenen Angreifer sollten dabei für Anspielstationen zwischen den Ketten sowie Lücken innerhalb der Linien für Schnittstellenpässe sorgen.

Ein deutscher Nationalspieler, der von dieser Spielweise extrem profitierte, war Timo Werner. In der ersten Saison unter Julian Nagelsmann 2019/20 schoss Werner starke 28 Tore und legte acht weitere auf. Immer wieder fand er durch sein hohes Tempo mit Tiefenläufen Räume, um durch die Schnittstellen angespielt zu werden und im Strafraum für Gefahr zu sorgen. Unter Nagelsmann spielte Werner die beste Saison seiner Karriere.

Doch die wichtigste Position für Nagelsmann war immer der defensive Mittelfeldspieler. "Der Sechser ist ein bisschen wie ein Quarterback. Er verbindet Offensive und Defensive", erklärte Nagelsmann einmal in einem Gespräch mit Green-Bay-Packers-Coach Matt LaFleur. Dabei setzte er bei Leipzig häufig auf Kevin Kampl, dessen Stärken vor allem im Passspiel mit Ball liegen und der die Bälle eben wie ein Quarterback übers Spielfeld verteilte. Doch Nagelsmann zeigte sich auch experimentierfreudig. Der heutige DFB-Nationalspieler Benjamin Henrichs, eigentlich Außenverteidiger, spielte unter Nagelsmann nicht selten als Sechser. Im DFB-Team kam der Rechtsfuß bisher in elf Spielen nur als Außen- oder Flügelverteidiger zum Einsatz (acht Mal rechts, drei Mal links).

Der Fußball in seiner Gesamtheit beim FC Bayern

Doch Julian Nagelsmann ist ein sehr kompletter Fußballtrainer. Während er bei seinen ersten Stationen immer auf Teams traf, die schnellen Umschalt- und Pressing-Fußball spielten, stellte ihn der FC Bayern München vor eine neue Aufgabe. Anstatt ein Pressing-Team dazu zu bewegen, noch mehr mit dem Ball zu machen, übernahm er eine Mannschaft, die sehr auf das Spiel mit Ball fokussiert war und ihre Stärken im eigenen Ballbesitz hatte. Anstatt mit Pressing-Konzepten zu starten, übernahm er in seiner Anfangszeit beim FC Bayern Konzepte aus dem Spiel von Hansi Flicks Bayern-Team, das ein Jahr zuvor das Triple aus Bundesliga, DFB-Pokal und Champions League gewonnen hatte.

Anstatt zentrumsorientiert und vertikal zu spielen, agierte der FCB offensiv mehr über die Breite. Bei seinen alten Clubs agierten die Dreierketten-Wingbacks auf den Flügeln, bei den Bayern war vor allem der Rechtsaußen häufiger in der Rolle, die Breite zu besetzen. Stattdessen rückte der Viererketten-Rechtsverteidiger häufig ins Zentrum ein, um es von hinten heraus zu stärken.

Dabei agierte Nagelsmann häufig nach dem Konzept "So wenig Breite wie möglich, so viel Breite wie nötig." Anstatt konstanter die Breite zu halten, wie es unter Vorgänger Hansi Flick bei den Münchnern üblich war, sollten auch der Rechtsaußen (oft Leroy Sané) oder linksseitig Verteidiger Alphonso Davies mehr in Richtung Zentrum schieben. Dadurch brachte der Bayern-Coach seine Spieler enger zusammen ins Zentrum, ermöglichte wieder die vielen vertikalen, zentralen Kombinationen – und er formierte seine Mannschaft besser um den Strafraum, um zweite Bälle aufzunehmen und zu verwerten. Das war ein Grundpfeiler der überragenden Bayern-Offensive in der Hinrunde 2022/23. Mit 51 Toren in den ersten 17 Spielen war der FCB auf dem Weg, zum dritten Mal in der Bundesliga-Historie die 100-Tore-Marke und sogar den bisherigen Rekord von 101 Saisontoren zu knacken.

Immer in der Analyse: Julian Nagelsmann beim FCB - DFL/GettyImages/Jörn Pollex

Spektakel-Fußball beim DFB unter Nagelsmann?

Es wird spannend werden, zu sehen, wie viele seiner Konzepte er in der kurzen Zeit bis zur Europameisterschaft in Deutschland beim DFB-Team implementieren kann. Mit nur noch zwei Länderspielpausen plus der Vorbereitungszeit direkt vor der EM muss Nagelsmann in ungefähr sechs Wochen effektiver Trainingszeit auf jeden Fall Prioritäten setzen.  

Dabei dürfte dem Coach helfen, dass er schon zum zweiten Mal Nachfolger von Hansi Flick wird. Er kennt nun gewisse Möglichkeiten, Flicks Spielprinzipien zu übernehmen und dahingehend anzupassen, dass er mit einer mehr Ballbesitz-orientierten Spielweise Erfolg hat. Dabei dürfen sich die Fans der deutschen Nationalmannschaft auf eine offensive Spielausrichtung freuen. Das DFB-Team erwartet Spektakel-Fußball bei der Nationalmannschaft.

Zudem wird er auch davon profitieren, bei seinem bisherigen Werdegang einen Großteil der DFB-Spieler kennengelernt zu haben. Neben Henrichs und Werner hat er bei Leipzig beispielsweise mit Lukas Klostermann zusammengearbeitet. Linksverteidiger David Raum war zwar nie unter Nagelsmann im Einsatz, spielte bei Hoffenheim und Leipzig aber in Systemen, die einem großen Einfluss des neuen Nationaltrainers unterlagen. Das Mittelfeldduo aus Joshua Kimmich und Leon Goretzka kennt er sowieso vom FCB, mit Sané, Serge Gnabry und Thomas Müller ist er ebenfalls vertraut. Und auch wenn er Spieler wie Florian Wirtz, Kai Havertz oder Niclas Füllkrug nie persönlich gecoacht hat, hat er oft genug gegen sie gespielt, um ein Bild von ihren Fähigkeiten und Spielstilen zu haben.

Denn eines ist Nagelsmann extrem wichtig: die Zusammenarbeit als Team. Die Spieler müssen als Einheit funktionieren und ihre gegenseitigen Stärken hervorheben, sich nicht gegenseitig unterdrücken. "Ich habe gelernt, wie wichtig jeder individuelle Charakter eines Spielers ist, um ein Team zusammenzustellen. Das ist manchmal sogar noch wichtiger, als den Spielern taktische Verhaltensweisen beizubringen", sagte er einst. Die Ausrichtung ist also klar: Als Einheit und mit einer offensiven Spielausrichtung soll das DFB-Team in Zukunft die Massen begeistern.

Niklas Staiger