
Das Geheimnis innerer Stärke
Tim Kleindienst hat sich bei Borussia Mönchengladbach zu einem der besten Bundesliga-Stürmer entwickelt – trotz prägender Rückschläge. Auf dem Weg zum Nationalspieler war auch die Schulbehörde mitentscheidend, Schildkröten spielen ebenfalls eine Rolle.
Vor seinem Wechsel zu Borussia Mönchengladbach im vergangenen Sommer wollte Tim Kleindienst wissen, was die lokale Schulbehörde zu dem Umzug sagen würde. Denn seine Frau würde dann ja auch die Stelle wechseln müssen, als Grundschullehrerin von Baden-Württemberg nach Nordrhein-Westfalen. „Dass sie mitkommen und hier arbeiten kann, war eine Bedingung für meinen Vereinswechsel“, sagt er.
Mittlerweile arbeitet auch sie in Mönchengladbach. Somit ist der Wechsel von Tim Kleindienst in jeder Hinsicht geglückt. Mit 13 Toren in den ersten 21 Spielen dieser Bundesliga-Saison besetzt er bei der Borussia sofort eine Hauptrolle, im Oktober 2024 debütierte er gar in der deutschen Nationalelf. In der Sportsprache redet man in solchen Fällen gern vom Durchbruch.

In die weite Welt nach Cottbus
Bloß verbindet man einen Durchbruch eher mit Neunzehnjährigen. Tim Kleindienst ist 29. Als wäre es eine letzte große Chance, bei der alles passen muss, hat er seinen Wechsel vom 1. FC Heidenheim 1846 zu Borussia Mönchengladbach abgewogen. Er hatte bereits mehr als zehn Profijahre voller guter und schlechter Erfahrungen hinter sich. Er hat dabei offensichtlich eine Fähigkeit entwickelt, die im Deutschen seit einigen Jahren am liebsten mit einem Fachbegriff beschrieben wird: Resilienz. Die Zeitschrift „Geo Wissen“ nennt Resilienz „eine besondere Kraft der Psyche, Belastungen auszuhalten“ und, weil das doch etwas zauberhafter klingt: „das Geheimnis innerer Stärke“.
Solche markigen Ausdrücke benutzt Tim Kleindienst nicht, als wir im Borussia-Park bei einem Kaffee in einer Loge zusammensitzen. Er erzählt einfach von seinem Weg. Er zog mit zwölf von zu Hause aus. Der FC Energie Cottbus, damals der einzige Proficlub in Brandenburg, hatte ihn 2008 als Talent entdeckt und angeboten, ihn ins Sportinternat aufzunehmen. Von Jüterbog, der Heimatstadt tief im brandenburgischen Land mit 12.000 Einwohnern, waren es anderthalb Stunden über die Landstraße nach Cottbus. Da kann keine Mutter einfach mal abends nach ihrer Arbeit noch schnell zu Besuch kommen. „Wenn ich mir das heute vor Augen führe, erscheint mir das manchmal selbst ein bisschen krass: Man trennt ein zwölfjähriges Kind von seiner Familie, setzt es 100 Kilometer entfernt in ein Zimmer mit einem anderen Zwölfjährigen, den es noch nie gesehen hat. Und dann soll es funktionieren.“ Tim Kleindienst hebt die Schultern. „Aber damals habe ich gedacht: Das ist halt so. Und oft war es ja auch lustig, nur unter Gleichaltrigen.“
Die Kopfballschule der DDR-Oberliga
Irgendwann in diesen Jahren, als Tim Kleindienst die verschiedenen Energie-Jugendteams durchlief, hörte ich zum ersten Mal seinen Namen. Beziehungsweise sein Name wurde mir wie eine Prophezeiung ins Ohr trompetet. „Tim Kleindienst! Der wird einer!“ Ich schrieb ein Buch über einen Scout des VfL Wolfsburg, um an seinem Beispiel das Leben hinter den Kulissen der Bundesliga zu schildern, und als dieser Scout, Lars Mrosko, später Spielerberater wurde, entdeckte er den siebzehnjährigen Kleindienst für seine Agentur. „Der sieht aus wie ein Storch im Salat“, sagte Mrosko über den bereits 1,90 Meter großen und noch klapperdürren Teenager. „Aber der köpft aus sechzehn Metern so hart, wie andere schießen. Der ist beidfüßig und jagt den ballführenden Gegner ohne Ende. Merk dir den Namen: Tim Kleindienst!“ Tim Kleindienst lacht, als er die Worte gut zwölf Jahre später vernimmt. „Ich selbst hatte nie das Gefühl, ein Toptalent zu sein.“ Heute wirkt Mroskos Beschreibung aber doch ziemlich akkurat.
Für Tim Kleindiensts Kopfbälle, scharf wie Schüsse, gibt es eine erstaunliche Erklärung. „Bei Energie Cottbus hatten wir Jugendspieler einen Kopfballtrainer“, erzählt er. Ein Trainer nur für das Kopfballspiel? Das habe ich noch nie gehört. War diese Spezialschule ein Erbe des wissenschaftlichen DDR-Trainings? Tim Kleindienst kann es nicht sagen, nur dass „wir jede Woche eine Stunde speziell Kopfballtraining bekamen. Ich hatte den Eindruck, ich war der Einzige, der daran riesige Freude hatte.“ Horst Krautzig, ein ehemaliger DDR-Oberliga-Fußballer, brachte Tim Kleindienst jede Woche die tausend Details des perfekten Kopfballs bei. Mit achtzehn hatte Kleindienst sein Abitur bestanden und es als kopfballstarker Torjäger in die Profielf von Energie geschafft.
"Gesteh dir ein, dass du es in Freiburg nicht mehr schaffst"
Geradlinig nach oben verlaufen die allerwenigsten Profikarrieren. Wir übersehen es nur, weil der Blick des Publikums auf die Überflieger wie Florian Wirtz fixiert ist. Tim Kleindiensts Weg verlief nach seinem Debüt fünf Jahre lang ziemlich branchentypisch, mit Vereinswechseln, die einen Aufstieg versprachen, und kleinen Enttäuschungen durch Verletzungen, torlosen Einsätzen, tatenlosen Nachmittagen auf der Ersatzbank. Nach sechs Jahren, mit 24, kam er erstmals an einen Punkt, an dem vielen anderen die definitive Stagnation nachgesagt wird. Beim Sport-Club Freiburg erklärte ihm Trainer Christian Streich, es reiche derzeit nicht für die Bundesliga. „Zunächst habe ich dann den typischen Fehler gemacht“, sagt Tim Kleindienst: „Ich habe mich in der Opferrolle eingeigelt. Ich habe mich ungerecht behandelt gefühlt und die Schuld bei allen anderen gesucht: Der Trainer sieht nicht, wie gut ich im Training bin, bla, bla, bla.“
Sportpsychologen sagen, in solchen Situationen sei es wichtig, dass Profispieler noch irgendetwas anderes im Leben als den Fußball haben. Hat ein Mensch ausschließlich den Fußball und der bricht weg, bricht allzu oft auch der Mensch weg. Tim Kleindienst scheint heute ein Musterbeispiel für Sportpsychologen, er beschäftigt sich mit Fotografie, er probiert beim Kochen neue Rezepte aus, er liebt Horrorfilme und schaut gern minutenlang seinen drei Schildkröten zu, denn „die langsamen Bewegungen haben etwas Beruhigendes“. Damals, beim ersten, potenziell karriereprägenden Rückschlag in Freiburg, hat Tim Kleindienst getan, wovor Eltern ihre Kinder warnen. Doch es war genauso hilfreich wie Schildkrötenmeditation: „Ich habe mit Freunden oder meinen Brüdern auch mal drei, vier Stunden lang an der Playstation gespielt.“ Es tat seinen Zweck: „Ich habe den Kopf frei bekommen. Und irgendwann hatte ich es dann auch gecheckt: Gesteh‘ dir ein, dass du es in Freiburg nicht mehr schaffst, und versuch es anderweitig.“
Einen Schritt zurück, zwei nach vorn
Ein Schritt zurück, in die 2. Bundesliga zum 1. FC Heidenheim 1846 schien ihn tatsächlich zwei Schritte vorwärtszubringen. Nach 14 Zweitligatoren in einem Spieljahr machte ihm der belgische Spitzenklub KAA Gent ein Angebot. Europacup spielen, einen fantastischen Gehaltssprung inklusive. „Das musst du machen“, sagen Profifußballer in solchen Situationen. „Ich habe mich von solchen Sprüchen blenden lassen“, sagt Tim Kleindienst. „Den Wechsel habe ich überhaupt nicht tiefer hinterfragt. Zum Beispiel bin ich einfach über die Tatsache hinweggegangen, dass Josephine als Lehrerin nicht nach Belgien mitgehen konnte.“
Einen Monat später saß er in einer wunderschönen Wohnung in einer wunderschönen belgischen Stadt und fühlte sich abgrundtief allein. Es galten die massiven Besuchsbeschränkungen der Coronapandemie, nach dem Scheitern in den Play-offs zur ersehnten UEFA Champions League gegen Dynamo Kiew (1:2, 0:3) verlor seine Mannschaft krachend auch alle sechs Europa-League-Spiele, die sportliche Krise entwickelte die typische Eigendynamik, im fünften Monat hatte er den vierten Trainer. „Gibt’s die hier im Monatsabo?“, dachte er. Ein Gefühl des Scheiterns kann Sportler in solchen Situationen langfristig hemmen. Tim Kleindienst ging zurück auf Los, zurück nach Heidenheim, und spielte stärker denn je. Dass er nie das Gefühl gehabt hatte, ein Toptalent zu sein, half nun – er fand es normal, widrige Situationen überwinden zu müssen. Auch dank des Torschützenkönigs Kleindienst (25 Treffer) stieg der Club 2023 erstmals in seiner Geschichte in die Bundesliga auf.
Borussia Mönchengladbach wollte ihn wegen seiner schussähnlichen Kopfbälle, seiner Pressingwucht, aber eben auch explizit wegen seines brüchigen Fußballerlebenslaufs. Sie suchten einen, der sich im Spiel bei Widerständen auflehnt. So wurde Tim Kleindienst mit 29 bei der Borussia im Handumdrehen – und dank der Erfahrung einer ganzen Profikarriere – zu einer prägenden Persönlichkeit.
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