Trafen das letzte Mal im Juni 2022 aufeinander: England und die Schweiz - © BEN STANSALL
Trafen das letzte Mal im Juni 2022 aufeinander: England und die Schweiz - © BEN STANSALL
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EM-Viertelfinale: Mutige Schweizer fordern träge Engländer

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Wenn am Samstagabend um 18 Uhr in Düsseldorf England gegen die Schweiz im Viertelfinale der Europameisterschaft aufeinandertrifft, messen sich zwei Teams mit komplett unterschiedlicher Wahrnehmung in ihren Ländern. Das hat Gründe.

Seit Anfang der Woche kursiert eine Vielzahl an Videos in den sozialen Medien, die englische Fans ungläubig jubelnd zeigen. Sogar die TV-Experten um Gary Neville lagen sich ungläubig in den Armen. Der Clip etwa ging dieser Tage viral.

Das Problem aus englischer Sicht: Die "Three Lions" haben nicht etwa den Titel bei der diesjährigen Europameisterschaft ergattert. Ein Last-Minute-Ausgleich gegen die Slowakei im Achtelfinale und das damit verbundene Überleben sorgte für derartige Extase - und Erleichterung. Nach dem knappen 2:1-Erfolg nach Verlängerung gegen den Außenseiter und der vierten enttäuschenden Leistung des Teams von Gareth Southgate hat sich das Narrativ auf der Insel längst gewandelt.

Größen wie Gary Lineker schieben vor dem Viertelfinale am Samstag um 18 Uhr in Düsseldorf die Favoritenrolle den Schweizern zu. Die Stimmung in der Heimat der Eidgenossen könnte konträrer nicht sein.

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Ebenso schön wie wichtig: Jude Bellinghams 1:1 gegen die Slowakei - INA FASSBENDER

"Eines der besten Tore in der Geschichte unseres Landes"

Mit Jude Bellingham und Harry Kane retteten ein ehemaliger und ein aktueller Bundesligastar ihre Nation vor dem kollektiven, sportlichen Kollaps. Bayern-Star Kane erklärte nach dem Slowakeispiel: "Das war eines der besten Tore in der Geschichte unseres Landes." Jude habe gemacht, was "Jude eben so macht - ein unglaubliches Tor." Zu Beginn der Verlängerung war es dann der Topstürmer selbst, der mit einem Kopfball den Siegtreffer erzielte.

Es waren herausragende Einzelaktionen wie die von Bellingham, die England retteten. Das Nationalteam spielte bisher defensiv orientierten, risikoarmen Fußball. Die große Anzahl teurer Superstars im Mittelfeld und Angriff wirkte bisher orientierungs- und wirkungslos. Trainer Gareth Southgate steht dafür vor allem in der Heimat in der Kritik.

Der frühere Nationalspieler Gary Lineker sagte in seinem Podcast "The Rest is Football", er könne sich nicht erinnern, schon einmal eine derart armselige englische Mannschaft wie beim Auftritt gegen die Slowakei gesehen zu haben: "Zwei Schüsse aufs Tor in 120 Minuten. Hätte das Spiel sechzig Sekunden weniger lang gedauert, wäre es als einer der peinlichsten Auftritte überhaupt in die Geschichte eingegangen." In seiner vernichtenden Analyse ging Lineker gar so weit, den Engländern die Favoritenrolle für das Viertelfinal gegen die Schweiz wegzunehmen: "Die Schweiz ist stark, selbstbewusst und gut organisiert. Ich glaube nicht, dass wir noch die Favoriten sind."

In drei Spielen nur 68 Mal am Ball: Harry Kane, ein Opfer des Spielsystems

Derartige Aussagen hätten vor dem Turnier realitätsfremd gewirkt, entsprechen nun aber der Faktenlage. Bei den "Expected Goals" stand England bereits nach der Gruppenphase auf dem drittletzten Platz, nur vier Nationen erzielten weniger Tore. Über Kanes Rolle wird auf der Insel eifrig diskutiert. Der passstarke Stürmer spielte bereits in der Vorrunde von den Stammspielern die mit Abstand wenigsten Pässe und hatte auch deutlich die wenigsten Ballkontakte. Insgesamt war er in drei Spielen nur 68 Mal am Ball, davon lediglich zehnmal im Strafraum. In der abgelaufenen Bundesliga-Saison hatte er 5,7 solcher Aktionen pro Partie.

Der Guardian schrieb während des Turniers, Kanes Rolle sei nicht klar definiert. "Er ist ein zu guter Passgeber, um ihn einfach in der Spitze auf Zuspiele warten zu lassen wie beispielsweise Erling Haaland. Aber er ist zu gut im Abschluss, um ihn als reine Nummer 10 einzusetzen." Derzeit sei er aber nicht in der Form, beide Rollen zu übernehmen. Das könnte auch mit einer Rückenverletzung, die er sich gegen Ende der Bundesliga-Saison zugezogen hat, zu tun haben. Zwei Tore erzielte er dennoch. Das zweite hielt England erst am Leben.

Eine weitere Schwäche sei laut der BBC das Positionsspiel. Es sei laut Grafiken auffällig, dass die offensive linke Seite häufig frei blieb, weil der nominelle Flügel Phil Foden oft ins Zentrum ziehe. Dort standen mit den beiden Mittelfeldspielern Jude Bellingham und Declan Rice - und teilweise auch Stürmer Harry Kane - aber bereits drei Spieler.

Die Schweizer jubeln ausgelassen nach dem 2:0 gegen Italien - IMAGO/Pan Yulong

"Warum also können wir England nicht schlagen?

Bellingham wurde vor seiner Weltklasse-Aktion ebenfalls heftig kritisiert. Gegen Slowenien im dritten Vorrundenspiel hatte er keinen Torschuss abgegeben, keine Chance kreiert, zudem den Ball 16 Mal verloren. Nach Informationen des spanischen Senders Cadena SER spielt der Star von Real Madrid noch immer unter anhaltenden Problemen durch seine ausgekugelte Schulter vom vergangenen November. Offenbar kann Bellingham also nur unter Schmerzen oder entsprechenden Schmerzmitteln spielen. Umso beeindruckender wirkt der Fallrückzieher nach.

Über diese Einzelleistung wird in der Schweiz auch gesprochen. Im Mittelpunkt allerdings stehen die herausragenden Leistungen der "Nati" um Leverkusen-Star Granit Xhaka. Trainer und Ex-Bundesligaspieler Murat Yakin hat, anders als sein Gegenüber, jede Menge Rückenwind und strahlte auf der Pressekonferenz am Mittwoch Zuversicht und Selbstvertrauen aus: "Wir haben gegen Deutschland gut gespielt. Wir haben gegen Italien gut gespielt, auch eine große Mannschaft. Warum also können wir England nicht schlagen?" Die Stimmung im Team sei gut. Yakins Team sei bereit, diesen großen Kampf gegen England zu führen.

Ein Duell (mindestens) auf Augenhöhe

Medien wie die NZZ in der Schweiz diskutierten diese Woche bereits, ob der souveräne 2:0-Achtelfinalerfolg der Schweizer gegen Italien der größte in der Fußballgeschichte des Landes war. Das Medium nannte als Vergleiche den lange zurückliegenden und historisch aufgeladenen 4:2-Sieg 1938 gegen das damalige Großdeutschland, den Sieg über Frankreich im Achtelfinale der letzten EM sowie das 1:0 gegen den späteren Weltmeister Spanien in der WM-Vorrunde 2010.

Die Schweiz ist bei dieser EM das bislang erfolgreiche Gegenstück zu England. Xhaka verleiht der Schweizer Defensive die gewohnte Passstärke und Stabilität. Beeindruckend ist aber das Pressing der Eidgenossen, die gegen Deutschland etwa in einem 5-2-3-System gegen den Ball agierten und dann immer wieder mannorientiert pressten, insbesondere durch die drei Angreifer Fabian Rieder, Dan Ndoye und Breel Embolo.

Ein ähnliches, mutiges Vorgehen ist für Samstag zu erwarten. Was angesichts der üblichen Marktwerte, alleine Bellingham und Kane sollen so viel Wert sein wie der gesamte Kader der Schweiz, vor dem Turnier kühn klang, ist nun Realität. Am Samstag treffen sich zwei Teams mindestens auf Augenhöhe.

Alle Meinungsverschiedenheiten ausgeräumt: Trainer Murat Yakin und sein Kapitän Granit Xhaka - IMAGO/nordphoto GmbH / Engler