Pierre-Emerick Aubameyang (r.) und der BVB sind zurzeit der Inbegriff von offensiv-orientiertem Vollgas-Fußball. Zuhause gegen den HSV demonstriert Dortmund das eindrucksvoll und gewinnt deutlich mit 6:2. Gladbachs Coach... (©Imago)
Pierre-Emerick Aubameyang (r.) und der BVB sind zurzeit der Inbegriff von offensiv-orientiertem Vollgas-Fußball. Zuhause gegen den HSV demonstriert Dortmund das eindrucksvoll und gewinnt deutlich mit 6:2. Gladbachs Coach... (©Imago)

Wenn Tore zum Kulturgut werden

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München - "Dass in der Bundesliga viele Tore fallen, ist schon lange so. Das ist eine Kultur", adelt Gladbachs Coach Lucien Favre die aktuellen Offensivkünste der Bundesligisten. Auch am letzten Spieltag fielen in allen Begegnungen mindestens zwei Treffer. Nach einer Nullnummer sucht man in dieser Saison tatsächlich vergeblich.

Mehr Tore als in Spanien und England

Das ist Rekord. Nie zuvor in der 50-jährigen Geschichte des Fußballoberhauses gab es eine Spielzeit, an deren ersten sechs Spieltagen keine einzige Partie torlos endete. Bemerkenswert ist das sicherlich, kommt jedoch nicht von ungefähr, das sehen auch die Protagonisten so: "Das ist eine Entwicklung, die man verfolgen kann. Gerade wenn eine Mannschaft führt, fallen hinten raus noch zwei, drei Tore", äußert sich Gladbach-Manager Max Eberl gegenüber bundesliga.de.



Die Zahlen geben ihm Recht. 176 Tore fielen bisher nach sechs Spieltagen, das sind 3,3 Tore pro Partie - so viele Treffer gab es zuletzt vor 19 Jahren in der Saison 1994/95. "Der deutsche Fußball hat sich in den letzten Jahren in eine ganz andere Richtung entwickelt. Weg vom rein defensiv-orientierten hin zum technisch gut ausgebildeten und mutigen Spieler", stellt Bremens Coach Robin Dutt fest. Die Entwicklung der Nachwuchsleistungszentren vor über zehn Jahren hat dem sicher nicht geschadet.

Nimmt man die Anzahl der Treffer als Maßstab für eine hohe Attraktivität, ist die Bundesliga auch europaweit top. Vergleicht man sie mit der für Offensivfußball bekannten Primera Division, landete die Kugel nach fünf Spieltagen im Schnitt 3,28 Mal im Netz. In Spanien liegt der Wert mit 2,98 Toren pro Spiel deutlich darunter. In der englischen Premier League fielen sogar durchschnittlich nur 2,14 Treffer.

Von einem "Bundesliga-Phänomen" zu sprechen, wäre zwar ein wenig zu hoch gegriffen. Dass die Liga attraktiver geworden ist, bleibt jedoch unbestritten. Das sieht auch Hamburgs Marcell Jansen so: "Das stimmt. Der Fußball hat sich da sehr verändert. In der Bundesliga ist zu beobachten, dass es sehr viel hoch und runter geht und dass viele Mannschaften immer wieder in der Lage sind, Tore zu schießen."

Unterschiedliche Ansichten zu den Ursachen



Wie ist diese Torflut zu erklären? Die Meinungen darüber gehen weit auseinander. "Vielleicht ist die Qualität der Spieler besser geworden", vermutet Nürnbergs Schlussmann Raphael Schäfer. Eberl sieht das nicht so: "Ich glaube nicht, dass die Stürmer stärker geworden sind. Vielmehr bin ich der Meinung, dass wenn eine Mannschaft in diesem Rausch ist, sie diesen dann auch nutzt." Ein Blick auf die Entstehung der Treffer könnte ein wenig Licht ins Dunkel bringen. Auffällig ist vor allem, dass drei Viertel der Tore aus dem Spiel heraus fielen. Nur 25 Prozent der Treffer resultierten aus Standardsituationen.

Nicht nur Standards, sondern auch das Flügelspiel ist aus der Mode. Die Teams verlassen sich mehr auf ihre Kreativität als auf einstudierte ruhende Bälle und Flanken von den Außenbahnen. Die Tore entstehen nämlich vor allem in der Zentrale: 48 Prozent entspringen der Spielmitte. In der letzten Saison lag dieser Wert noch bei 41 Prozent.

Offensive Spielweise kommt prächtig an



Einziges Manko: Die Mitte ist meistens dicht. Die Vielzahl der Mannschaften setzt auf eine Doppelsechs vor der Innenverteidigung, bietet so wenig Platz in der Zentrale. Erst durch rasantes Kurzpassspiel lassen sich Räume schaffen und dadurch in den Defensivreihen Lücken aufreißen. Das erfordert eine hohe Beweglichkeit. "In der Bundesliga wird attraktiver Fußball gespielt. Das Tempo ist sehr hoch", stellt Gladbachs Oscar Wendt fest.

Die Tempoverschärfung führt gleichzeitig auch zu mehr Großchancen. An den ersten sechs Spieltagen der vergangenen Spielzeit tauchte 158 Mal ein Spieler frei vor dem Schlussmann auf, aktuell war das schon 183 Mal der Fall. Der Fokus liegt also eindeutig auf dem Gefahrenbereich "Strafraum", was auch die geringe Anzahl an Weitschusstoren (zehn Prozent aller Treffer) untermauert.

Fakt ist: Die Bundesliga entwickelt sich immer mehr zur Torfabrik und das kommt vor allem beim Publikum prächtig an, findet auch Wendt: "Jede Mannschaft möchte lieber 4:3 gewinnen als 1:0. Das ist gut für die Zuschauer und einer der Gründe, warum in der Bundesliga so viele Fans in die Stadien kommen." Nicht ohne Grund ist das deutsche Fußballoberhaus die am besten besuchte Liga Europas. Neben vollen Stadien ist nun auch die Vielzahl an Treffern zu einem echten Kulturgut geworden.

Yannik Schmidt