Trotzige Euphorie im Freudenhaus

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Hamburg - Fürth, 2. Mai 2010, 19:19 Uhr: Nur Sekunden nach dem Abpfiff von Schiedsrichter Guido Winkmann gab es für die rund 9.000 mitgereisten Fans des FC St. Pauli kein Halten mehr. Nach dem 4:1 ihrer braun-weißen Helden über die SpVgg Greuther Fürth wurde der Rasen des Playmobil-Stadions zur Festwiese. Der Aufstieg war den Hamburgern nach dem 33. Spieltag nur noch sehr theoretisch zu nehmen.

Und auch rund ums Hamburger Millerntor-Stadion brachen alle Dämme. Die berühmte Reeperbahn und angrenzende Straßen waren dicht, auf der Fanmeile feierten rund 20.000 Anhänger die Kiez-Kicker. Anwohner fühlten sich ins Jahr 1990 zurückversetzt, als im Amüsierviertel der Hansestadt der WM-Titel der deutschen Nationalmannschaft gefeiert wurde.

Kiez wurde zum Tollhaus

Eine Woche später versank die Reeperbahn erneut in einem braun-weißen Fahnenmeer, der Kiez verwandelte sich zum Tollhaus. Das bedeutungslose 1:2 gegen den SC Paderborn zum Abschluss der Saison war egal.

Nach neun Jahren war der FC St. Pauli nun auch offiziell zurück in der Bundesliga - und das zum 100. Geburtstag des Traditionsvereins. Beobachter waren sich mit Hannover-Coach Mirko Slomka einig, der in einem Gespräch mit bundesliga.de den Hamburgern erfrischenden Angriffsfußball bescheinigte und dem Aufsteiger zutraut, die Überraschungsmannschaft der Saison zu werden.

Einiges mitgemacht

"Das ist die spielerisch stärkste St.-Pauli-Elf, die ich je gesehen habe", so Matthias J. Und der muss es wissen: "Ich habe seit 1980 kein Heimspiel verpasst. Was hab' ich mit diesem Verein nicht schon alles mitgemacht? Abstieg, Aufstieg, Abstieg, Zwangsabstieg in die 3. Liga, Angst vor Lizenzentzug..."

"Hast recht", stimmt ihm sein Kumpel Kai G. zu. "Natürlich wäre es einfacher, Bayern-Fan oder so zu sein, damit man auch mal einen Titel feiern kann. Aber ich komm' von der 'Droge Pauli' einfach nicht los."

"Stani wird's schon richten"

Und so geht es allen Kiebitzen beim Training in der Kollaustraße. Die Erwartungen der Fans sind hoch, einen direkten Wiederabstieg wie nach dem Aufstieg 2001 wird es nicht wieder geben, sind sich die Trainingsbeobachter sicher.

"Stani wird's schon richten", genießt Trainer Holger Stanislawski das Vertrauen der Fans. Der 40-Jährige ist seit 17 Jahren ein Paulianer und schaffte nach zwei Aufstiegen als Spieler nun als Trainer zum dritten Mal den Sprung ins Oberhaus.

Auswärts-Start ein gutes Omen

Die Euphorie wurde von der WM nur überdeckt - zum Erlöschen kam sie nie in diesem heißen Hamburger Sommer. Jeder fieberte dem Saisonstart entgegen. Gegen den Dauerkartenverkauf verkamen die berühmten "warmen Semmeln" zu Ladenhütern. Endlich wieder Bundesliga - und noch wichtiger: endlich wieder Derby. Bereits am vierten Spieltag muss der große, ungeliebte Nachbar HSV ans Millerntor.

Der Spielplan will es, dass der FC St. Pauli am 21. August beim SC Freiburg in die Saison startet. "Super", freut sich Andreas K., der jedes Ergebnis seiner Lieblinge der letzten 25 Jahre herunterbeten kann. "Wir haben bisher jeden Liga-Auftakt auswärts gewonnen. Ein gutes Omen", so der "Statistik-Freak". Gibt aber zu, dass das bisher auch erst einmal der Fall war: 1990/91 starteten die "Kiez-Kicker" mit einem 2:1 bei Hertha BSC in die Saison.

Trulsen träumt von Platz 8

Nach dem 1:1 gegen Bayer Leverkusen und einem überzeugenden 3:0 über den spanischen Erstligisten Real Racing Santander in der Vorbereitung sprang der Optimimus auch auf die die Offiziellen über. "Platz 8" traute Stanislawskis Co-Trainer Andre Trulsen, anders als sein Chef von den Fans in die Jahrhundert-Elf des Clubs gewählt, in einer Geburtags-Show des lokalen TV-Senders Hamburg 1 zu. Das wäre ein Platz besser als die bisher beste Platzierung in der Bundesliga-Geschichte des Vereins.

Zu einem öffentlichen Training im Millerntorstadion, dem "Freudenhaus der Liga" an einem Sonntagmorgen kamen 2.500 Besucher. Spieler, Trainer und Betreuer schrieben sich die Finger wund. Fast vier Stunden lang zog die Fan-Karawane an der Tischreihe vorbei, um die begehrten Autogramme zu ergattern.

Chemnitz als Spaßbremse

Und dann der 14. August, 16:18 Uhr, Chemnitz: Eine Woche vorm Saison-Auftakt trat Gastgeber FC Chemnitz auf die Euphoriebremse. Der Viertligist warf den Bundesliga-Aufsteiger mit einem 1:0 aus dem DFB-Pokal.

Für Stanislawski ein Grund, "einen Schlussstrich" zu ziehen. "Wir waren auf der Spitze des Olymps, hatten Spaß und haben viel gefeiert - den Aufstieg, den 100. Vereins-Geburtstag, die neue Haupttribüne. Zu Recht, und das war ja auch schön. Doch jetzt ist Schluss mit Feiern - jetzt ist Alltag", so der Coach in der Hamburger "Morgenpost".

Jürgen Blöhs