Raffael van der Vaart (l.) und Klaas-Jan Huntelaar (m.) stehen bei der EM vor ihrem Startelfdebüt
Raffael van der Vaart (l.) und Klaas-Jan Huntelaar (m.) stehen bei der EM vor ihrem Startelfdebüt

Tod oder Gladiolen

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Charkiw - Bert van Marwijk sieht müde aus. Tiefe Ringe, in den Augen brennt kein Feuer mehr. Die beiden Pleiten bei der Europameisterschaft haben deutliche Spuren hinterlassen. Fast resignierend kündigte der Trainer der niederländischen Nationalmannschaft vor dem entscheidenden Gruppenspiel gegen Portugal am Sonntag (ab 20:30 Uhr im Live-Ticker) an, was die Nation und alle Experten seit Wochen fordern: Neue Spieler, mehr Offensive.

Niederlande zum Siegen verdammt

"Wir haben zweimal verloren, natürlich werde ich etwas verändern", versprach der 60-Jährige. Gute Nachrichten also für Schalkes Torjäger Klaas-Jan Huntelaar, der neben Robin van Persie stürmen soll. "Innerhalb der Gruppe habe ich meinen Mund nicht gehalten. Aber in den Medien habe ich es getan. Ich habe mehrmals mit dem Bondscoach gesprochen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hat man genug gesagt, und dann muss er eine Entscheidung fällen", so der "Hunter".



Frei nach dem Motto "Tod oder Gladiolen" wollen die Niederlande noch in das Viertelfinale der EM stürmen - doch "Voetbal total" allein wird ihnen nicht weiterhelfen. Holland ist nicht mehr Herr seines Schicksals: Der Sturm auf das Tor zur K.o.-Runde kann nur gelingen, wenn Deutschland, ausgerechnet Deutschland, ein bisschen Schützenhilfe leistet - und tatsächlich fühlt sich Oranje hilflos. "Wir sind abhängig von Deutschland, und das fühlt sich nicht gut an", betont Arjen Robben vom FC Bayern.

Egal, was Deutschland macht: Die Niederlande muss erst mal gegen Portugal gewinnen, und Oranje hat sich vorgenommen, in diesem letzten Gruppenspiel am Sonntag in Charkow (20.45 Uhr/EinsFestival) wenigstens in Schönheit zu sterben. Dafür opfert van Marwijk, dessen Stuhl trotz eines Vertrags bis 2016 ins Wackeln geraten ist, wohl sogar seinen Schwiegersohn und Kapitän: Mark van Bommel. Rafael van der Vaart wird ihn wohl ersetzen.

Ob van Marwijk ("Wir müssen wieder als Team auftreten") wirklich noch die Zügel in der Hand hat, erscheint derzeit aber zumindest fraglich: Wesley Sneijder ("Ich bin hier, um Europameister zu werden") ist in die Chefrolle geschlüpft. Der überragende Niederländer der WM 2010 gibt im Training und auf dem Platz den Ton an. Eine Laufeinheit beendete der Mittelfeldstar von Inter Mailand spontan ohne Rücksprache mit dem zuständigen Trainer. Und auch im Deutschland-Spiel war es Sneijder, der nach der Pause die veränderte Oranje-Offensive in seinem Sinne dirigierte.

"Hunter" soll in die Startelf rücken



Entsprechend offensiv forderte Sneijder nach der Niederlage gegen das DFB-Team (1:2) die Veränderung der ersten Elf: "Huntelaar und van der Vaart sind Superspieler. Sie haben bewiesen, dass sie in die Startelf gehören", sagte er. Keinen Platz mehr gibt es dagegen für van Bommel. Dem will Sneijder auch noch die Kapitänsbinde abnehmen. "Ich fühle, dass ich dieser Aufgabe gewachsen bin", sagte Sneijder, der sich sich öffentlich bei den Oranje-Fans für die beiden Pleiten entschuldigt hatte.

Jose Mourinho ist es dagegen völlig egal, was die Niederländer ändern. Für den portugiesischen Startrainer von Real Madrid ist klar: "Wenn Portugal am Sonntag gegen die Niederlande seine Pflicht tut, steht es im Viertelfinale", sagte Mourinho. Zwar hat auch Portugal ein Sorgenkind, den torlosen Cristiano Ronaldo, doch nach dem 3:2 gegen Dänemark ist Jammern auf hohem Niveau. Immerhin hat Portugal sein Schicksal selbst in der Hand. Ein Sieg heißt: Viertelfinale.

Zudem spricht die Statistik gegen die Niederlande: In zehn Spielen gegen Portugal gab es nur einen Sieg für den Elftal, und noch nie hat eine Mannschaft nach zwei Niederlagen zu Turnier-Beginn noch die K.o.-Runde erreicht. Kuriosum am Rande: Verlören Holland gegen Portugal und Deutschland gegen Dänemark, dann wäre der deutsche Erfolg gegen die Niederlande nichts mehr wert - das Team von Bundestrainer Joachim Löw wäre draußen.

Das wäre ein kleiner Trost für alle Niederländer, die derzeit viel Hohn und Spott über sich ergehen lassen müssen. Über Twitter kalauerte ein User: "Die Holländer waren noch müde van der Vaart." Zudem entstehen neue Wortkreationen. Vorrundenaus auf Niederländisch heißt jetzt "Heimrobben". Sogar die Werbung springt auf den Zug auf und rät: "Machen Sie es wie die Holländer, erleben Sie das Finale vor dem Fernsehen."

"Ronaldo muss nichts beweisen"



Gegner Portugal ist zwar in der besseren Ausgangsposition, doch die Kritik an Cristiano Ronaldo ist das beherrschende Thema. Der Real-Superstar kann machen, was er will - nichts genügt den hohen Erwartungen von Fans und Experten. Trotz des so wichtigen 3:2 gegen Dänemark sprachen fast alle nur von den beiden Großchancen, die der teuerste Fußballer der Welt vertändelt hatte. Gegen die Niederlande heißt es deshalb für Ronaldo wieder einmal: Sieg oder Schande.

Auf eines kann sich Ronaldo aber auf jeden Fall verlassen: die Unterstützung seiner Mitspieler. "Cristiano Ronaldo ist gut drauf, ein exzellenter Spieler und Kapitän. Er muss nichts beweisen. Er gehört zum Team, und wir sind alle bereit, für Portugal alles zu geben", sagte Silvestre Varela, der Siegtorschütze gegen Dänemark.

Auch Torhüter Rui Patricio stärkt dem Superstar den Rücken: "Cristiano spielt immer gut. Manchmal laufen die Dinge aber nicht so, wie man sich das wünscht, vor allem bei den Torabschlüssen. Aber nur wer auf dem Platz steht, kann Fehler machen. Ich gehe fest davon aus, dass er im nächsten Spiel trifft."

Die Chancen, dass Cristiano Ronaldo dieser EM auch noch sportlich seinen Stempel aufdrückt, stehen eigentlich gar nicht so schlecht. Zum einen sind die Portugiesen so etwas wie ein Angstgegner der schwer angeschlagenen Elftal (nur eine Niederlage in zehn Spielen), zum anderen hat das Team von Trainer Paulo Bento eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass es eben nicht nur aus Ronaldo besteht.

Voraussichtliche Aufstellungen:

Portugal: Rui Patricio - Joao Pereira, Pepe, Bruno Alves, Fabio Coentrao - Miguel Veloso - Raul Meireles, Joao Moutinho - Nani, Cristiano Ronaldo - Helder Postiga

Niederlande: Stekelenburg - van der Wiel, Heitinga, Mathijsen, Willems - van der Vaart, N. de Jong - Robben, van Persie, Sneijder - Huntelaar


Die Top-Fakten zum Spiel:

    Die Niederländer stehen nach zwei Spieltagen als Tabellenletzter mit null Punkten da; erstmals verlor Oranje bei einer WM oder EM zwei Spiele in Folge.

    Bei der letzten Europameisterschaft 2008 hatten die Niederländer noch alle drei Gruppenspiele (zum Teil bravourös) gewonnen und nun droht das vorzeitige Aus.

    Ein Aus in der Gruppe wäre für die Niederländer das erste seit 1980, damals scheiterte Holland in Italien unter anderem an Deutschland und die DFB-Auswahl wurde Europameister.

    Von den ersten 42 Spielen unter Bert van Marwijk hat die Niederlande nur zwei verloren, in den letzten neun Partien gab es dagegen gleich fünf Niederlagen.

    Portugal und die Niederlande trafen bisher in zehn Länderspielen aufeinander und Oranje gewann nur eins davon (drei Unentschieden, sechs Niederlagen): In der Qualifikation zur EM 1992 mit 1:0.

    Die Iberer sind seit acht Spielen und über 20 Jahren gegen die Niederlande ungeschlagen.

    Auch das bisher einzige Aufeinandertreffen im Rahmen einer Europameisterschaft entschieden die Iberer für sich: Im Halbfinale der Heim-EM 2004 mit 2:1 (Tore: Ronaldo, Maniche / Eigentor Andrade).

    Das letzte Länderspiel zwischen Portugal und den Niederlanden war das Achtelfinale der WM 2006 in Nürnberg – Schiedsrichter Valentin Ivanov sprach vier Platzverweise aus, bis heute historischer WM-Rekord. Rechnet man die "inoffiziellen" Gelben Karten der vier Spieler vor den Platzverweisen dazu, gab es insgesamt 16 Karten – ebenfalls ein trauriger WM-Rekord.

    Cristiano Ronaldo gab bei dieser EM elf Torschüsse ab, erzielte aber kein Tor (und gab keine Torvorlage).

    Nicht viel besser lief es für Arjen Robben: Der Bayern-Spieler gab zehn Torschüsse ab, ist aber ebenfalls ohne Torbeteiligung.