Der Schalker Innenverteidiger Benedikt Höwedes (u.) landet auf den Boden der Tatsachen (©Imago)
Der Schalker Innenverteidiger Benedikt Höwedes (u.) landet auf den Boden der Tatsachen (©Imago)

Schalke zurück in der Realität

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Gelsenkirchen - "Wir konnten in der Vorbereitung in Ruhe arbeiten. Aber der Druck wird kommen", hatte sich Jens Keller im Interview mit bundesliga.de kurz vor dem Saisonstart gar keinen Illusionen hingegeben. Dass die Euphorie allerdings so schnell verfliegen würde, hatte wohl auch der Schalker Cheftrainer nicht erwartet.

Die frühe Führung durch Huntelaar verfehlt seine Wirkung

Plötzlich war der Druck da, den Keller irgendwie schon befürchtet hatte. Und das nach noch nicht einmal einer halben Stunde der neuen Spielzeit. Der HSV lag auf Schalke in Führung, von der Tribüne dröhnten die ersten Pfiffe - und die Schalker Mannschaft reagierte sichtlich verunsichert.



Am Ende wurde der Fehlstart in die neue Saison mit dem zwar noch vermieden, aber alle königsblauen Träumer sind erst einmal wieder auf dem Boden der Realität gelandet. Den eigenen Ansprüchen aus und Mannschaftskreis, zum Unwillen von Keller teils durchaus vollmundig formuliert, konnte Schalke zum Auftakt jedenfalls nicht gerecht werden. Statt Bayern und Dortmund zu jagen, haben die "Knappen" zurzeit ganz andere Probleme.

Dabei hatte Schalke 04 gegen die Gäste aus Hamburg einen Auftakt nach Maß verbucht. Aber die frühe Führung durch Klaas-Jan Huntelaar konnte irgendwie nie dazu beitragen, dem Gegner ruhig und selbstbewusst das eigene Spiel aufzuzwingen und die Partie zu kontrollieren.

"Wir waren überhaupt nicht im Spiel, obwohl wir nach der frühen Führung eigentlich Sicherheit hätten haben müssen. Wir haben uns zu weit zurückgezogen", kritisierte Keller in einer Mischung aus Verärgerung und Irritation. Oder war man sich auf dem Platz sogar zu sicher? "Mit der frühen Führung haben wir vielleicht gedacht, dass alles von alleine geht", gewährte Julian Draxler in seiner Analyse einen ehrlichen Einblick.

Unruhe im Schalker Spiel wird offensichtlich



Schalke ließ es schnell an Kompaktheit und Aggressivität fehlen, agierte viel zu passiv und stellte das Pressing weitgehend ein. "Pomadig" fand Sportdirektor Horst Heldt den Auftritt. Die Gegentore waren fast eine logische Konsequenz: Erst Matips unglückliches Handspiel im Strafraum, das der HSV zum Ausgleich nutzte, dann die bittere Verletzung von Julian Draxler und unmittelbar nach dessen Auswechslung die Hamburger Führung.

In diesem Moment war die Verunsicherung und Nervosität auf dem Platz nicht mehr zu übersehen und im Stadion fast greifbar. Kapitän Benedikt Höwedes versuchte wild gestikulierend seine Mitspieler aufzubauen, Christian Fuchs diskutierte aufgeregt mit seinem Abwehrchef, und Jermaine Jones ließ nach einem weiteren Fehlpass fast schon resigniert die Schultern hängen.

Keller: "Diese Unaufmerksamkeiten hätten nicht sein müssen"



Gerade am Defensivverhalten hatte Jens Keller zur neuen Saison eigentlich arbeiten wollen. Mehr Konstanz und mehr Stabilität waren das Ziel. Drei Gegentore, mehrere Unsicherheiten bei Standards und ein Spiel später ist klar: Keller hat mit Schalke noch einiges an Arbeit vor sich.

Weder in der Viererkette noch im defensiven Mittelfeld wirkt die Mannschaft zurzeit kompakt genug. "Wir sahen bei den Gegentreffern gar nicht gut aus. Diese Unaufmerksamkeiten hätten nicht sein müssen", redete der Trainer gar nicht um das Problem herum.

Zumindest in diesem Punkt waren auch die Spieler bei ihrem Coach - sie zeigten sich nach der Partie selbstkritisch und suchten nicht nach Ausreden. "Wir haben den Gegner mit unserer Passivität und unseren Fehlern zum Spielen und Tore schießen eingeladen", meinte Benedikt Höwedes. Klaas-Jan Huntelaar wurde noch deutlicher: "Wir waren spielerisch zu schwach. So kannst Du nicht gewinnen. Wir waren zu keiner Phase die überlegene Mannschaft oder haben den Gegner dominiert. Das müssen wir dringend verbessern."

Szalai entwickelt sich zu einer echten Alternative



Was neben der Selbstkritik nach dem ersten Spiel der Saison für die Schalker spricht ist ihre Moral. Trotz zweimaligen Rückstandes steckte die Mannschaft nicht auf und kämpfte sich in der zweiten Halbzeit in die Partie zurück. Außerdem, und das war die gute Nachricht des Tages, kann sich Schalke auf seine Stürmer verlassen.

Dabei verfügt man mit Klaas-Jan Huntelaar nicht nur über einen Torjäger in beachtlicher Frühform, sondern neuerdings mit Neuzugang Adam Szalai ganz offenbar auch über einen zweiten Angreifer mit echten Knipserqualitäten.

Die in der letzten halben Stunde praktizierte 4-4-2-Formation mit zwei Stürmern hat sich gegen den HSV erstmals in der Bundesliga bewährt und bietet Jens Keller damit auch eine ernsthafte Option für die nächsten Spiele, sollte Julian Draxler nach seiner Achillessehnenprellung und Fleischwunde an der Wade länger ausfallen. "Für Wolfsburg könnte es eng werden", fürchtet Horst Heldt.

Zehner-Problem im 4-2-3-1-System



In der sonst üblichen 4-2-3-1-Formation sind die Alternativen auf Draxlers Zehner-Position im zentralen, offensiven Mittelfeld allerdings dünn gesät. Nach seiner Einwechslung konnte der junge Leon Goretzka hier keine Akzente setzen. Schalkes Eigengewächs Max Meyer (17) stand gar nicht erst im Kader.

Vielleicht ist diese plötzliche Erkenntnis um die Abhängigkeit von Draxler auch einer der Faktoren, der manch einen in und um Schalke in diesen Tagen wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Jens Keller hatte schon in den letzten Wochen nie in die große Euphorie eingestimmt. "Wir sind auch nicht mit dem Hammer behauen und wissen durchaus um die Qualität der anderen Mannschaften", hatte er bundesliga.de erklärt.

Den Hamburger SV hatte er dabei zwar nicht primär im Blick. Aber spätestens seit Sonntag wissen jetzt wieder alle Schalker, dass sie sich in der Liga nicht nur mit Bayern und dem BVB, sondern noch mit 15 anderen Clubs ernsthaft auseinandersetzen müssen.

Aus Gelsenkirchen berichtet Dietmar Nolte