Skeptisch: Ewald Lienen, 2007 Griechenlands Trainer des Jahres, erwartet eine schwere Aufgabe gegen die Hellenen
Skeptisch: Ewald Lienen, 2007 Griechenlands Trainer des Jahres, erwartet eine schwere Aufgabe gegen die Hellenen

Leichtester Gegner? "Mitnichten!"

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München - Deutschlands Viertelfinalgegner heißt Griechenland - für viele ist der Halbfinaleinzug der DFB-Elf damit schon so gut wie gebucht. Die Nationalelf hat noch nie gegen die Hellenen verloren. Und bei dieser EM ist sie mit drei Siegen durch die Gruppe gestürmt, während die Griechen sich mit nur vier Punkten ins Viertelfinale gezittert haben.

Alles klar also? Ganz im Gegenteil, sagt Ewald Lienen. Der ehemalige Coach von Panionios Athen und Olympiakos Piräus kennt einige Spieler im aktuellen Auswahlteam der Griechen persönlich. Er sagt: "Es wird auch für Deutschland hart, dieses Bollwerk zu überwinden."

Wie man die griechische Mauer knackt, ob das aktuelle Team das Potenzial der Helden von 2004 hat und inwiefern er Joachim Löws Einschätzung der griechischen Offensive widerspricht, verrät er im Interview.

bundesliga.de: Herr Lienen, in den Medien wird Griechenland als leichtester Viertelfinalgegner eingeschätzt. Stimmen Sie zu?

Ewald Lienen: Mitnichten. Griechenland hat bei der bisherigen Europameisterschaft zwar keine Bäume ausgerissen und auch nicht attraktiv gespielt. Aber auch die deutsche Mannschaft hat bisher noch nicht ansatzweise das Potenzial abgerufen, das sie hat. Gegen die griechische Mannschaft zu spielen, ist im Moment für jede Mannschaft schwer.

bundesliga.de: Was macht die Griechen aus?

Lienen: Sie sind sehr kompakt und stehen tief in der eigenen Hälfte. Es wird auch für Deutschland hart, dieses Bollwerk zu überwinden. Eine frühe Führung wäre superwichtig, anschließend wären Räume da. Wenn das nicht klappt, wird es gefährlich. Die Griechen sind sehr stark im kontern und haben einige richtig gute Individualisten.

bundesliga.de: Mit einer Bollwerk-Taktik wurde Griechenland 2004 auch Europameister. Trauen Sie dem aktuellen Kader wieder eine solche Sensation zu?

Lienen: Das wäre für mich sehr, sehr überraschend. 2004 waren sie individuell wesentlich stärker als im Moment, mit vielen Spielern aus europäischen Topligen. Da waren Leute wie Angelos Basinas, Panagiotis Fyssas, Giorgios Seitaridis oder Angelos Charisteas dabei. Und Kostas Katsouranis und Giorgos Karagounis waren viel jünger.

bundesliga.de: Wie muss Deutschland agieren, um die griechische Mauer zu knacken?

Lienen: Wie man jede tief stehende Mannschaft knackt: Mit schnellem und variablen Kombinationsspiel. Und das ist der deutschen Mannschaft in den letzten Spielen relativ schwer gefallen. Auch, weil es mit Mario Gomez in der Spitze ein anderes Spiel ist. Er ist zwar in einer überragenden Verfassung, aber ist natürlich ein anderer Stürmertyp als ein fitter Miro Klose, der mit Spielern wie Mesut Özil oder Bastian Schweinsteiger wesentlich besser zusammenspielen kann. Das ist mit Gomez schwer möglich. Vielleicht wäre es eine Möglichkeit, Klose etwas mehr Einsatzzeiten zu geben oder auch Spielern wie Andre Schürrle oder Marco Reus, damit wieder etwas von diesem verwirrenden Kombinationsspiel zu sehen ist, das man sicherlich braucht, um so ein Bollwerk zu überwinden.

bundesliga.de: Sie kennen ja einige Spieler der Griechen persönlich.

Lienen: Ja, ich freue mich für eine ganz Reihe von Spielern, die ich früher gehabt habe, dass sie sich bis in die griechische Nationalmannschaft hinein durchgesetzt haben.

bundesliga.de: Zum Beispiel Jose Holebas?

Lienen: Über Jose haben bei Olympiakos damals alle die Nase gerümpft. Jetzt ist er schon zwei Mal Meister geworden und ist Stammspieler in der Nationalmannschaft. Auch die drei Jungs von Panionios, die ich trainiert habe, und die kein Mensch kannte, sind jetzt fest dabei. Giannis Maniatis ist mittlerweile der beste Mann im Mittelfeld bei Olympiakos. Oder Grigoris Makos und Giorgos Tzavellas. Für sie freue ich mich, dass sie sich so entwickelt haben.

bundesliga.de: Ist der Ausfall von Holebas ein großer Verlust für die Griechen oder ist der Ex-Frankfurter Tzavellas ohnehin der stärkere Spieler?

Lienen: Tzavellas wird wohl für Holebas spielen, aber man kann die beiden eigentlich nicht vergleichen. Tzavellas ist ein gelernter Linksverteidiger, Jose war früher Linksaußen. Tzavellas ist eher der Techniker, schlägt gute Seitenwechsel und Flanken. Jose ist der dynamischere, schnellere, aggressivere Spielertyp mit großem Offensivdrang, muss aber im Stellungsspiel nach hinten noch dazulernen.

bundesliga.de: Was den Offensivdrang der Griechen angeht, sagte Joachim Löw, sie seien "Meister der Effzienz. Sie hatten bei der EM drei Torchancen und haben drei Tore erzielt." Wie sehen Sie das?

Lienen: Dass sie nur drei Chancen hatten, entspricht nicht ganz der Wahrheit. Ich habe die Spiele gesehen, sie haben sicherlich kein Feuerwerk abgebrannt. Aber sie hatten schon einige Gelegenheiten. Durch die Hereinnahme von Dimitris Salpingidis hat die griechische Offensive sehr viel gewonnen. Aber sie verlassen sich vorne auf Einzelsituationen, Konter und Standards. Da sind sie sehr gefährlich.

bundesliga.de: Sie sprechen die Standards an. Auch gegen Dänemark fiel das deutsche Gegentor nach einer Ecke. Droht Deutschland da die meiste Gefahr?

Lienen: Absolut. Wenn es zu Standards kommt, haben Sie mit Giorgos Samaras, Schalkes Kyriakos Papadopoulos, Bremens Sokratis oder auch Katsouranis richtig gute Kopfballspieler. Dazu schlägt Tzavellas gute Eckbälle und hat bei Freistößen eine super Kurve. Da müssen wir uns sicherlich etwas einfallen lassen. Er hat auch einen Freistoß ans Lattenkreuz geschossen, schon wieder eine Chance, die Jogi Löw vergessen hat. Man muss zusehen, dass man die Standards verhindert. In der Hinsicht ist es ein Vorteil, dass Karagounis nicht dabei ist. Er ist jemand, der diese Situationen immer wieder provoziert, dribbelt - und dann schnell zu Boden geht.

bundesliga.de: Können die Griechen den Ausfall ihres Kapitäns überhaupt kompensieren?

Lienen: Das schon, auf jeden Fall. Er hat zwar das Tor gemacht, aber das war ja fast ein Eigentor der Russen. Karagounis ist natürlich die Symbolfigur des griechischen Fußballs, aber er ist jetzt auch schon 35 und nicht mehr auf dem Gipfel seiner Leistungsfähigkeit. Das griechische Spiel hängt nicht zu 100 Prozent von ihm ab.

bundesliga.de: Was tippen Sie, wie geht das Spiel aus?

Lienen: Ich tippe keine Spiele, sondern hoffe, dass Spiele gerecht enden. Dass das Team, das mehr für das Spiel tut, am Ende auch gewinnt. Die deutsche Mannschaft ist dazu in der Lage, das steht außer Frage.

Das Gespräch führte Christoph Gschoßmann