Erich Rutemöller ist ein echter Taktikexperte und schreibt die Entwicklung im Defensivbereich von Bayern-Akteur...
Erich Rutemöller ist ein echter Taktikexperte und schreibt die Entwicklung im Defensivbereich von Bayern-Akteur...

"Dortmund agiert explosiver als Bayern"

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München - Falsche Neun oder doch der klassische Stoßstürmer? 4-2-3-1 oder 4-1-4-1? Die Meinungen über neue Taktikentwicklungen im Fußball sind breit gefächert. So hätte man beispielsweise Franck Ribery wohl früher nie im eigenen Sechszehner verortet. Trainerlegende Erich Rutemöller, ehemaliger Ausbildungsleiter für die Erlangung der Fußballlehrerlizenz, bringt Licht ins Dunkel.

Mit bundesliga.de sprach der ehemalige U20-Trainer beim DFB und ausgebildeter Fußballlehrer über die Taktikentwicklungen im Fußball, die Unterschiede zwischen Dortmund und Bayern und den polyvalenten Spieler:

bundesliga.de: Herr Rutemöller, spätestens seit Pep Guardiolas Engagement bei den Bayern feststand, war immer mehr von der falschen Neun die Rede. Ist es wirklich eine neue Entwicklung im Fußball?

Erich Rutemöller: Wenn man von falscher Neun spricht, geht es um die Sturmspitze. Und da hat es immer schon eine Vielzahl von Möglichkeiten gegeben: Vom Stoßstürmer bis zu "Shadow-Striker" oder "Fox in the Box", also ein Strafraumstürmer wie Gerd Müller einer war. Das ist typenabhängig. Der Trainer entscheidet, wen er auf welche Position stellt und wer wo am besten hin passt. Daher ergibt sich diese taktische Vielfalt. Ob ich einen Typen habe wie Oliver Bierhoff, der kopfballstark ist, oder einen dribbelstarken, geschickten Spieler a la David Villa oder einen Wayne Rooney, der gerne um die Spitze herum spielt. Das ergibt sich aus den Spielertypen und der Spiel-Philosophie des Trainers. Im Grunde bedeutet falsche Neun ja, dass es sich um einen Spieler handelt, der nicht stur im Zentrum spielt, sondern auch mal auf die Flügel ausbricht, flexibel ist und vielleicht auch mal andere Positionen einnehmen kann.

bundesliga.de: Wohin geht Ihrer Meinung nach der Trend in der Bundesliga? Gibt es noch Platz für den klassischen Stoßstürmer?

Rutemöller: Jein. Er hat auf jeden Fall noch Platz. Das ist aber auch ergebnisabhängig. Wenn ich ein Tor brauche und viel mit Flanken arbeite, dann brauche ich diesen Spielertypen, der in der Luft stark ist. Die Tendenz geht sicherlich hin zum 4-2-3-1. Da habe ich einen Stürmer, der eher kein Stoßstürmer ist, sondern variabel spielen kann. Wichtig ist, dass die Unterstützung aus dem Mittelfeld da ist. Ich halte es für wichtiger, dass die Unterstützung im zentralen Mittelfeld da ist, aber auch über außen. Dass selbst auch defensive Mittelfeldspieler nachrücken können und im Strafraum Tore schießen dürfen - siehe Sami Khedira. Das ist für mich entscheidend.

bundesliga.de: Sind also Stürmer wie Mario Mandzukic oder Robert Lewandowski die Prototypen des modernen Stürmers? Also Spieler, die wuchtig sind, ihren Körper einsetzen können, aber dennoch beweglich sind?

Rutemöller: Ja, das ist genau der Spielertyp, der ja nicht nur zuletzt für Furore gesorgt hat. Die sind vielseitig, die sind kopfballstark und unten stark. Die sind flexibel, was den Raum betrifft, halten sich also nicht nur am Elfmeterpunkt auf, und was noch ganz wichtig ist: Die sind auch bereit, nach hinten zu arbeiten. Für die ist das Spiel nicht vorbei, wenn der Ball verloren ist.

bundesliga.de: Sie haben gerade schon die Unterstützung der Stürmer aus dem Mittelfeld angesprochen. Gerade bei Ballverlust sah der FC Bayern unter Guardiola zuletzt verwundbar aus, hat Schwachstellen gezeigt. Wie kommt es dazu?

Rutemöller: Da haben die Bayern in der Tat Unsicherheiten gezeigt. Wenn man den Ball verliert und in den Bemühungen, den Ball sofort zurückzugewinnen scheitert, kann man Probleme bekommen, weil sich dann Räume auftun. Und das hat sich bei den Bayern in einigen Situationen gezeigt. Das ist das Hauptproblem.

bundesliga.de: Ist das eine Schwäche des 4-1-4-1, das Guardiola favorisiert oder noch die Umgewöhnung vom alten 4-2-3-1-System auf die neue Grundordnung?

Rutemöller: Das hat gar nichts mit System zu tun, sondern in erster Linie ist es die Bereitschaft der Spieler, nach Ballverlust hinterherzugehen. Das ist eine Frage der Einstellung. Es ist eine Frage der Bereitschaft, auch mal längere Laufwege zu gehen und zu unterstützen, den inneren Schweinehund überwinden und diese Wege auch dann noch zu gehen, wenn man schon kaputt ist. Das klingt banal, aber das ist für mich das Hauptverdienst von Jupp Heynckes. Er hat die Spieler ans Laufen bekommen. Auch so Leute wie Arjen Robben und Franck Ribery, die sicherlich nach vorne überragende Fähigkeiten haben, sich aber nach hinten nicht zeigen wollten oder konnten. Und das hatte sich im vergangenen Jahr stark geändert. Wann hatte man früher Ribery im eigenen Sechzehner gesehen?

bundesliga.de: Gar nicht eigentlich.

Rutemöller: Eben. Und das hat es in der vergangenen Saison häufiger gegeben.

bundesliga.de: Bayern und Dortmund haben in der vergangenen Saison den europäischen Fußball beherrscht und europaweit begeistert. Inwieweit sehen Sie in dieser Saison zwischen beiden Clubs Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede?

Rutemöller: Rein taktisch gesehen ist für mich im Moment der Hauptunterschied der, dass die Dortmunder nach der Balleroberung noch schneller nach vorne spielen als die Bayern. Die Dortmunder, so kann man sagen, explodieren dann. Der erste Gedanke und auch die erste Aktion ist nach vorne, vertikal. Die Bayern sind da schon noch ein bisschen anders. Auch sicherlich durch die Philosophie von Guardiola. Sie sind erst darauf aus, den Ballbesitz zu sichern, ziehen dann ihr Kurzpassspiel auf, spielen dann 40, 50 Pässe, bis sie den richtigen Moment erwischen, um den entscheidenden Pass zu spielen.

bundesliga.de: Lucien Favre hatte bereits vor einigen Jahren von polyvalenten Spielern gesprochen und auch Sie haben vorhin bereits die Vielseitigkeit der Spieler angesprochen. Ist das bei den Spielern der Trend, wohin es sich derzeit entwickelt?

Rutemöller: Auf jeden Fall. Man kann einen Robben zum Beispiel nicht als Innenverteidiger nehmen, aber dass man in der Lage ist, nicht nur in Angriff und Abwehr zu arbeiten, sondern auch von den Positionen unabhängig zu arbeiten, ist sehr wichtig geworden. Das gilt besonders für Mittelfeldspieler, die sehr variabel sein müssen. Aber auch für die Spitzen, die ja auch ihre räumlichen Möglichkeiten haben. Das gilt auch für Innenverteidiger, die früher im Grunde nur Zerstörer waren und Balleroberer. Heute müssen sie aber auch Spielmacher sein, Ideen haben. Der Spielaufbau läuft sehr oft über die Innenverteidiger und die defensiven Mittelfeldspieler. Da erwartet man heutzutage einfach ein viel breiteres taktisches Können.

Das Gespräch führte Gregor Nentwig