Die zwei Gesichter von 1899 Hoffenheim: Anthony Modeste (l.) und Co. stellen zwar eine der stärksten Angriffsreihen der Liga, kassieren jedoch extrem viele Gegentore - Roberto Firmino kann da nicht mehr zusehen
Die zwei Gesichter von 1899 Hoffenheim: Anthony Modeste (l.) und Co. stellen zwar eine der stärksten Angriffsreihen der Liga, kassieren jedoch extrem viele Gegentore - Roberto Firmino kann da nicht mehr zusehen

1899 knackt 100-Tore-Marke: Die Spektakel-Spezialisten

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München - Vorne hui, hinten pfui - das ist das Motto bei 1899 Hoffenheim. Wenn die TSG spielt, können sich die Zuschauer fast immer auf ein absolutes Tor-Spektakel freuen. Schließlich hat die Mannschaft von Trainer Markus Gisdol zuletzt mit dem 6:2 über den VfL Wolfsburg eine magische Marke geknackt: In den 23 Begegnungen mit Beteiligung der Kraichgauer in dieser Saison sind sage und schreibe 100 Treffer gefallen - das gab es zuletzt vor 28 Jahren!

Wacklige Defensive

Gründe dafür sind in allen Mannschaftsteilen auszumachen. Während das Offensiv-Ensemble um Roberto Firmino Woche für Woche glänzt, präsentiert sich die Defensive dagegen nicht ganz sattelfest. "Das geht mir total auf den Sack. Wenn wir irgendwann mal sieben Tore schießen, bekommen wir auch sicher sieben", sagte ein aufgebrachter Gisdol nach dem 4:4 in der Hinrunde gegen Werder Bremen. Da war gerade der 14. Spieltag vorbei, geändert hat sich seitdem zwar die Tabellensituation seines Teams, nicht aber die Spielweise.

Ganz unzufrieden kann der Trainer mit der Entwicklung trotz dieser harschen Töne nicht sein. Denn seit der Installation des 44-Jährigen ist man in Hoffenheim ganz gezielt auf den offensiven Weg zurückgekehrt. Schon Ralf Rangnick hatte einst die Philosphie geprägt, mit jungen Talenten mutig nach vorne zu spielen. Dass es bei dieser Spielweise auch einmal das eine oder andere Gegentor mehr gibt, wird gerne in Kauf genommen. Zumal junge Spieler wie Torwart Koen Casteels (21 Jahre) oder die Innenverteidiger Niklas Süle (18) und Jannik Vestergaard (21) momentan natürlich noch fehleranfälliger sind als gestandene Routiniers. Die TSG gibt diesen Talente dennoch die Chance - bewusst. 

"Koen ist ein großes Talent, aber noch kein richtig guter Bundesliga-Torwart", meinte Gisdol im November letzten Jahres und verordnete Casteels daraufhin im Pokal-Spiel bei Schalke 04 eine Pause. Mittlerweile hat sich der Belgier aber wieder im Kasten etabliert. Trotzdem wirkt er nicht immer sicher. Obwohl zwölf Mannschaften mehr Torschüsse zuließen, kassierten nur der VfB Stuttgart und der Hamburger SV mehr Gegentore als die TSG. Nur 57 Prozent der Bälle, die auf sein Tor kamen, wehrte Casteels ab. Das ist der schlechteste Wert aller Stammkeeper. Auch den jungen Innenverteidigern fehlt noch die Konstanz. Nur gegen den HSV (28) trafen die Stürmer öfter als gegen Hoffenheim (18 Mal).

1899 verteidigt allgemein mit hohem Risiko. Süle und Co. haben die Gegner am häufigsten ins Abseits gestellt (71 Mal). Manchmal geht das aber auch schlicht und ergreifend schief. Anfällig zeigt sich die Defensive zudem bei ruhenden Bällen: Schon 17 Mal führte eine Standardsituation zu einem Gegentor, darunter sieben Ecken. Umgekehrt nutzt man Standards in der Offensive zum eigenen Vorteil.

Herausragende Offensive

Mit Sejad Salihovic hat man einen hervorragenden Elfmeterschützen in den eigenen Reihen. Der 29-Jährige hat nicht nur in dieser Saison eine tolle Quote. Von allen Spielern, die schon mehr als 25 Strafstöße ausgeführt haben, hat keiner so viele verwandelt (93 Prozent) wie der Bosnier. Aber nicht nur Salihovic sorgt immer wieder für Ausrufezeichen, auch sein Kollege Firmino spielt eine starke Saison. Nur Borussia Dortmunds Top-Torjäger Robert Lewandowski (23) war an mehr Treffern beteiligt als der Brasilianer (21).

Aufgrund dieser hohen individuellen Klasse in der Offensive ist es kein Wunder, dass nur die Spitzenteams FC Bayern München und der BVB mehr Tore auf dem Konto haben als Hoffenheim. Neben Salihovic und Firmino stechen auch Kevin Volland und das Stürmerduo Anthony Modeste und Sven Schipplock hervor. Volland hat schon acht Mal selbst getroffen und drei weitere Treffer vorbereitet.

Mit Vollgas über die Flügel

Modeste und Schipplock teilen sich insgesamt 15 Tore. Bemerkenswert ist, dass die meisten Bundesligisten mittlerweile ganz auf den typischen Mittelstürmer verzichten - bei Hoffenheim geht das System mit den bulligen und kopfballstarken Angreifern dagegen voll auf. Die Flügelspieler füttern die beiden kopfballstarken Torjäger immer wieder mit guten Hereingaben. Nur die Bayern (14 Mal) trafen häufiger nach einer Flanke als 1899 (zehn Mal).

Was die TSG in der Defensive schwächt, macht sie offensiv gefährlicher. Denn die Verteidiger schalten sich oft mit ins Angriffsspiel ein. David Abraham, Vestergaard und Co. waren schon an 18 Toren beteiligt. Einzig die Abwehrspieler des FCB haben noch mehr Scorer-Punkte gesammelt (22).

Risiko und Spektakel

Dabei gibt Hoffenheim grundsätzlich immer Vollgas, ohne Rücksicht auf Verluste. Nach der Balleroberung wird schnell umgeschaltet und gerne auch mit Risikopässen auf möglichst direktem Weg nach vorne gespielt. Das klappt allerdings auch nicht immer, weshalb aktuell nur zwei Mannschaften eine höhere Fehlpassquote aufweisen als 1899 (27,9 Prozent). Dennoch zahlt sich diese Spielweise durchaus aus. Denn nur Dortmund und die Bayern haben sich mehr Großchancen erspielt (52), waren dabei aber nicht so effizient wie die TSG, die durchschnittlich jeden sechsten Ball aufs gegnerische Tor im Netz versenkt.

Der langen Rede kurzer Sinn: Hoffenheim steht im Jahr 2014 für Fußball-Feinkost, Dramatik und Spektakel mit höchstem Unterhaltungswert. Und das Ende der Fahnenstange ist auch nach 100 Toren noch nicht in Sicht. Denn bereits am Samstag gastiert 1899 bei Schalke 04 (ab 15 Uhr im Live-Ticker). Und das Hinspiel war - wie sollte es auch anders sein - ein atemberaubendes 3:3.

Sebastian Blome