Reiner Calmund war fast 30 Jahre in verschiedenen Funktionen für Bayer Leverkusen tätig (1976 bis 2004)
Reiner Calmund war fast 30 Jahre in verschiedenen Funktionen für Bayer Leverkusen tätig (1976 bis 2004)

"Das kostet Nerven"

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München - Mit heißen Saison-Endphasen kennt sich Reiner Calmund aus. Als langjähriger Manager von Bayer 04 Leverkusen erlebte Calmund vier Vizemeisterschaften unter dem Bayer-Kreuz. Unerwartet könnte es auch in der laufenden Spielzeit noch einmal eng werden im Titelrennen. Denn Spitzenreiter Borussia Dortmund schwächelt, während Verfolger Leverkusen von Erfolg zu Erfolg marschiert.

Im Interview spricht der 62-Jährige über die Aussichten der "Werkself" im Schlussspurt, Strohfeuer beim FC Bayern und Nervenflattern bei Spitzenreiter Dortmund.

bundesliga.de: Herr Calmund, Bayer Leverkusen spielt ja eine bärenstarke Rückrunde und ist die beste Mannschaft 2011. Wie schätzen Sie die Leistungen der "Werkself" in den vergangenen Wochen ein?

Reiner Calmund: Bei Bayer war ich mir vor der Saison schon ziemlich sicher, dass sie sich für die Champions League qualifizieren würden. In der Winterpause habe ich sie zwar noch hinter Dortmund und den FC Bayern auf Platz 3 getippt, doch Jupp Heynckes, sein Assistent Peter Hermann und Rudi Völler haben es geschafft, dass die Mannschaft kontinuierlich gut spielt und Ruhe im Umfeld war. Sie mussten viele Langzeitverletzte, wie Kapitän Simon Rolfes, Torjäger Stefan Kießling oder auch Michael Ballack verkraften, ohne dabei groß zu klagen. Sidney Sam hat sich zudem vom Ergänzungsspieler in den letzten Wochen mit seinen Dribblings und wichtigen Toren zum Leistungsträger entwickelt. Mittelfeld-Motor Arturo Vidal ist mittlerweile ein Topstar der Liga. Bayer ist auf einem guten Kurs.

bundesliga.de: In der Winterpause waren es noch zehn Punkte Rückstand auf den BVB, jetzt sind es nur noch fünf. Hätten Sie gedacht, dass es im Kampf um die Meisterschaft nochmal so eng zwischen den beiden Teams wird?

Calmund: Ich habe am Dienstag noch mit Rudi Völler gesprochen, das Thema steht momentan ganz hinten an. Bayer muss zudem im Verfolgerfeld noch auf München und Hannover 96 achten. Gelingt den Bayern eine Leistungsexplosion und ein Sieg gegen Leverkusen, würde der Vorsprung nochmal auf sechs Punkte schmelzen. Am Wochenende geht es somit um zwei ganz wichtige Dinge: Sollte Leverkusen jedoch das Spiel in München (So., ab 15 Uhr im Live-Ticker / Liga-Radio) gewinnen, dann hätten sie die Vize-Meisterschaft und die direkte Teilnahme an der "Königsklasse" geschafft. Mit dem zusätzlichen Selbstvertrauen könnte man den Dortmundern nochmal gefährlich werden.

bundesliga.de: Gerät die Borussia denn noch in Gefahr, die Konkurrenz wieder in Schlagdistanz zu bringen?

Calmund: Dortmund ist mein Favorit im Kampf um die Meisterschaft. Sie haben den besten Fußball gespielt. Aber Fakt ist auch, dass der BVB in den vergangenen Wochen an Vorsprung eingebüßt hat, der ja zwischenzeitlich auch schon zwölf Punkte betrug. Das kostet Nerven.

bundesliga.de: Wie groß sind denn die Chancen, dass Bayer das Spiel in der Allianz Arena gewinnt?

Calmund: Ein Sieg wäre nicht unbedingt überraschend. Normalerweise sind die Bayern ja zuhause ganz schwer zu schlagen. Aber momentan haben sie zum einen kein Glück, zum anderen fehlen Power und Rhythmus und beim Kombinationsspiel vermisst man Druck und Tempo. Nach Abwehrschwächen zum Saisonbeginn läuft die eigentlich starke Bayern-Offensive auch nicht mehr auf Hochtouren und jetzt ist auch noch Arjen Robben gesperrt. Daher ist ein Leverkusener Sieg nicht unmöglich - und ganz ehrlich ein Wunschtraum von mir.

bundesliga.de: Der FC Bayern hofft allerdings, dass durch den Wechsel auf der Trainerbank von Louis van Gaal zu Andries Jonker ein Ruck durch die Mannschaft geht. Kann das gelingen?

Calmund: Das ist immer möglich, nach dem Motto "Neue Besen kehren gut". Aber in dieser Saison hatten die Münchner schon ein paar Termine, vor denen sie angekündigt haben jetzt starten wir richtig durch. Dann loderten die Flammen kurz auf, aber waren auch genauso schnell runter gebrannt. Es war in der Regel immer nur ein Strohfeuer und von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, ließen die Bayern alles vermissen, was man von ihnen erwartet hatte. Ich hoffe trotzdem, dass die Münchner noch Dritter werden, denn sie sind das Aushängeschild des deutschen Fußballs. Ihnen ist es in erster Linie zu verdanken, dass wir im nächsten Jahr vier Teams in die Champions League schicken können.

bundesliga.de: Auf der anderen Seite ist es für Leverkusens Trainer Jupp Heynckes auch ein besonderes Spiel, da er in der kommenden Saison wieder bei den Bayern auf der Trainerbank sitzt. Kann er diese Tatsache völlig ausblenden?

Calmund: Jupp Heynckes ist ein absoluter Vollprofi, der blendet das aus. Klar, im Hinterköpfchen wird er sich sicherlich wünschen, dass auch Bayern München noch die Champions-League-Qualifikation erreicht, aber am Wochenende wird er sich nur damit beschäftigen, wie man mit Leverkusen punkten und die Champions League frühzeitig sichern kann.

bundesliga.de: Die Konstellation mit Dortmund und Leverkusen auf den vorderen zwei Plätzen erinnert ja schwer an die Saison 2001/02. Damals hatte Bayer am 31. Spieltag noch fünf Punkte Vorsprung auf die Westfalen, am Ende wurde trotzdem der BVB Meister...

Calmund: Vielleicht ist das ein gutes Omen, aber bevor man darüber diskutiert, sollte Leverkusen erst mal versuchen, am Wochenende bei Bayern zu gewinnen.

bundesliga.de: Die Historie sollte der "Werkself" aber Mut machen, oder?

Calmund: Warum sollte sich das Spielchen nicht mal umdrehen? Aber da hilft kein Quatschen, sondern nur Machen - und damit muss man in München schon anfangen. Wenn es nach mir geht, können die Bayern gerne eine Serie starten, um doch noch Tabellendritter zu werden - aber erst nächste Woche.

Das Gespräch führte Jessica Pulter