Thomas Tuchel trat im August 2009 die Nachfolge Jörn Andersen an
Thomas Tuchel trat im August 2009 die Nachfolge Jörn Andersen an

"Wir wollen Mainz in der Bundesliga etablieren"

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Thomas Tuchel hat ein aufregendes Jahr hinter sich. Am 28. Juni 2009 gewann er mit den A-Junioren des 1. FSV Mainz 05 den ersten deutschen Meistertitel der Clubgeschichte durch ein 2:1 über Borussia Dortmund.

Nicht einmal ein Jahr später hat der die Profis der Mainzer in überragender Manier zum Klassenerhalt geführt. Mit einem 1:0-Sieg am 30. Spieltag beseitigten die Aufsteiger aus Rheinhessen auch die letzten rechnerischen Zweifel am Erreichen des Saisonziels. Gegner auch diesmal: Borussia Dortmund.

Im Interview mit bundesliga.de verrät Erfolgstrainer Tuchel, seit wann bei den Mainzern der Klassenerhalt schon intern gefeiert wurde, wie er mit seinem Team die letzten vier Saisonspiele angehen will und was mittelfristig in Mainzmöglich ist.

bundesliga.de: Herr Tuchel, mit dem Sieg gegen Borussia Dortmund hat der 1. FSV Mainz 05 endgültig die 40-Punkte-Marke übersprungen, durfte gewissermaßen hochoffiziell den Klassenerhalt feiern. Verändert sich die Arbeit mit dem Team vor den verbleibenden vier Saisonspielen dadurch?

Thomas Tuchel: Durch die Art und Weise, wie wir die Saison gespielt haben, und dadurch, wo wir uns in der Tabelle und von den Punkten her aufgehalten haben, haben wir spätestens seit dem Auswärtssieg in Hoffenheim (am 25. Spieltag, Anm. d. Red.) nicht mehr damit gerechnet, noch unten reinrutschen zu können. Der Sieg gegen Dortmund unterstreicht vor allem noch mal die Leistung der Mannschaft. Wir haben seitdem lediglich unseren Wochenablauf geändert, um wach zu bleiben, um kreative Unruhe zu schaffen. Ansonsten bleibt alles gleich. Niemand braucht zu glauben, dass wir jetzt weniger machen, weil wir auch rechnerisch nicht mehr absteigen zu können.

bundesliga.de: Sie sprechen vom "wach bleiben". Ist es besonders wichtig, auch jetzt bis zum Saisonende Vollgas zu geben, damit die Spieler vor dem gerne mal als besonders schwer bezeichneten zweiten Bundesligajahr nicht plötzlich denken, dass alles von selbst geht?

Tuchel: Natürlich. Deshalb haben wir uns auch nie ein Punkte-Ziel vorgenommen. Der Weg war immer ein Teil des Ziels. Deshalb gibt es für uns auch überhaupt keine Veranlassung kürzerzutreten, oder das nicht mehr ernst zu nehmen. Aus dem absoluten Ergebnisdruck sind wir raus. Daraus ergibt sich aber auch wieder ein hoher Anspruch, den wir jede Woche an uns selbst stellen und immer wieder neu formulieren. Am Samstag wartet die nächste Aufgabe auf uns - und auch die Paarungen in den nächsten Wochen sprechen für sich. Da müssen wir jedes Mal an die Leistungsgrenze heran.

bundesliga.de: Beim HSV, dann das Derby gegen Frankfurt, in Stuttgart und gegen Schalke - ihr Präsident Harald Strutz nennt die letzten vier Spiele "Festwochen". Können Sie das jetzt genießen, oder geht man als Trainer nie entspannt in ein Bundesligaspiel?

Tuchel: Mir gelingt es tatsächlich nicht, ganz entspannt in ein Spiel zu gehen. Ich hoffe aber schon, dass die Spieler aus dieser Stimmung besondere Leistungen abrufen können. Grundsätzlich ist die Anspannung aber ein wesentlicher Faktor, um Top-Leistungen abzuliefern. Das ist auch bei den Spielern so, deshalb trainieren wir mit der gleichen Intensität, mit dem gleichen Wettkampfcharakter und der gleichen Offenheit wie bisher. Das ist unser Anspruch - und deshalb werde ich in den letzten vier Spielen auch nicht besonders entspannt sein. Dazu bin ich einfach zu eng an der Mannschaft dran. Wir formulieren unsere Ziele für jedes einzelne Spiel. Die werden wir mit jedem Gegner ausfechten bis auf den letzten Tropfen.

bundesliga.de: 31 ihrer 41 Punkte haben sie zuhause gewonnen. Was muss in Hamburg besser werden, damit es da vielleicht auch zu einem "Dreier" reicht?

Tuchel: Wenn wir das so genau wüssten, hätten wir unser Verhalten vielleicht schon geändert. Ich denke nicht, dass es damit getan ist, Verhaltensweisen zu ändern und schon hat man Erfolg. Wir haben intern ja auch nicht weniger Wertschätzung für die 41 Punkte, nur weil wir 31 zuhause gemacht haben. Das spielt unter dem Strich keine Rolle. Natürlich wünschen wir uns auswärts konstantere Leistungen über 90 Minuten und über die Spiele hinweg. Wir dachten, mit dem Spiel in Hoffenheim sei der Knoten geplatzt, aber dann haben wir in Freiburg wieder eine schlechte Halbzeit gespielt. Das letzte Auswärtsspiel in Nürnberg ist aufgrund der Unterzahl über sehr lange Zeit separat zu betrachten. Unser Anspruch in Hamburg ist, besser und früher in die Zweikämpfe zu kommen und den Fokus noch mehr auf die Balleroberung zu legen, damit wir besser umschalten können. Je besser wir diese Teilaufgabe hinbekommen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, ein gutes Ergebnis zu bekommen.

bundesliga.de: Ihr Team hat vor dem Sieg gegen den BVB in sechs Spielen drei Platzverweise kassiert und drei Mal in Folge ohne eigenes Tor verloren. War das vielleicht auch ein guter Test, nachdem die Saison bis dato fast reibungslos verlaufen ist?

Tuchel: Im Nachhinein betrachtet könnte man das so formulieren, aber wehe, das wäre nicht gut ausgegangen. Wir haben uns einfach nicht verrückt gemacht, weil auch jede der drei Niederlagen ihre eigene Geschichte hatte. Gegen Wolfsburg haben wir beispielsweise deutlich besser gespielt als gegen Dortmund und wurden nicht belohnt. Wir nehmen uns immer eher Leistungsziele vor, legen den Fokus mehr auf das Handeln als auf die Konsequenzen dieses Handelns. Auf die jüngsten Erfahrungen hätten wir gerne verzichtet, aber es war trotz allem schön zu sehen, dass wir es all jenen beweisen konnten, die uns gefragt haben, ob die Luft raus ist. Das haben wir immer schon konsequent verneint, weil wir nie dieses Gefühl hatten. Der Sieg gegen Dortmund war dennoch sehr symbolisch und hat gezeigt, dass wir nach drei Niederlagen in Folge einen Charaktertest gegen eine formstarke Dortmunder Mannschaft bestanden haben.

bundesliga.de: Die drei Niederlagen ohne eigenes Tor fielen genau mit der 3-Spiele-Sperre für Aristide Bance zusammen. Ist er so enorm wichtig für die Mannschaft, oder gab es andere Gründe für die Niederlagen?

Tuchel: Es stimmt beides. Er ist durch seine Präsenz sehr wichtig. Er erhöht auch immer den Fokus des Gegenspielers und schafft Räume. Auf der anderen Seite hat aber auch er schon Chancen vergeben, hatte eine lange Phase, in der ihm die torlosen Minuten vorgerechnet wurden. Wir haben die Ruhe bewahrt, weil er eben auch Qualitäten über das Tore schießen hinaus hat. Man darf aber nicht vergessen, dass uns auch Tim Hoogland fast in der gesamten Rückrunde gefehlt hat, der in seiner offensiven Rolle mit sehr wichtigen Toren ein ganz wesentlicher Faktor war und immer noch unser zweitbester Torschütze ist. Das ist schwer aufzufangen, aber trotzdem hatten wir in allen drei Spielen unsere Chancen.

bundesliga.de: Ist ein Vorteil der jetzigen Situation, dass sie frühzeitig die Kaderplanung aufnehmen konnten? Sie wollen den Kader ja auf 18 Mann, ergänzt durch sechs Talente, verkleinern.

Tuchel: Auf jeden Fall ist das ein Vorteil. Das merken wir auch im Umgang mit Spielern, wenn wir mit potenziellen Zugängen in Kontakt treten. Wir können uns früher damit beschäftigen, auf welchen Positionen wir etwas tun wollen. Trotzdem wollen wir mit der Planung sehr behutsam umgehen.

bundesliga.de: Hat der frühzeitige Klassenerhalt noch weitere Vorteile?

Tuchel: Er ermöglicht uns als Trainerteam, den Sonntag und Montag auch einmal darauf zu verwenden, persönlich Spiele anzusehen und Spieler zu beobachten. Sonst würde man abwägen, ob es nicht besser ist, die komplette Energie vor Ort zu verwenden. Das nutzen wir jetzt aus und es ist eine sehr komfortable Situation, aus der wir einen Vorteil ziehen wollen.

bundesliga.de: Sie hatten diese Woche mit Kevin Gohiri und Emile M'Bamba schon zwei Gastspieler im Training. Welchen Eindruck haben die hinterlassen?

Tuchel: Beide Spieler sind sehr respektvoll mit der Chance umgegangen, haben respektvoll von Umfeld und Club gesprochen und waren bescheiden. Das hat uns an den Charaktereigenschaften gefallen. Kevin hat sportlich einen sehr guten Eindruck hinterlassen und wir werden sehen, ob er sich noch einmal bei uns zeigt.

bundesliga.de: Ein Jahr in der Bundesliga mit Mainz 05 haben Sie jetzt fast hinter sich. Was kann mittelfristig in Mainz das Ziel sein?

Tuchel: Der Verein hat in den letzten Jahren eine ganz außergewöhnliche Entwicklung genommen, maßgeblich geprägt von Jürgen Klopp in dessen Trainerjahren. Mainz 05 hat sich unter den Top-22 in Deutschland etabliert. Mittelfristig - und da stehen der Stadionbau und die neuen finanziellen Möglichkeiten symbolisch dafür - wollen wir den nächsten Schritt machen. Wir wollen Strukturen schaffen, die zu unserer Philosophie passen und die dann auch klar als Mainz 05 wiederzuerkennen sind. Diese Strukturen sollen dann auch größer sein als der handelnde Trainer, damit wir Mainz 05 in der Bundesliga etablieren können. Das ist der nächste Schritt und auf dem außergewöhnlichen Pflaster hier ist der absolut möglich.

Das Gespräch führte Matthias Becker


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