Er kümmerte sich jahrzehntelang um jedes noch so kleine Wehwehchen der Gladbacher: Kult-Masseur Charly Stock
Er kümmerte sich jahrzehntelang um jedes noch so kleine Wehwehchen der Gladbacher: Kult-Masseur Charly Stock

Massage für die Fohlen-Seele

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Mönchengladbach - Wer als "Kult-Masseur", "Seele des Vereins" oder "personifizierte Tradition" bezeichnet wird, muss die Geschichte eines Clubs maßgeblich mitgeprägt haben. Karlheinz "Charly" Stock ist seit über 50 Jahren bei Borussia Mönchengladbach. Zwischen 1962 und 1990 machte der Physiotherapeut die Profis fit. Alle hat er auf seiner Massagebank gehabt - Netzer, Heynckes, Vogts, Matthäus, Effenberg. Und nicht nur wegen seiner "heilenden Hände" genoss er bei den Spielern großes Vertrauen.

Für das Treffen mit bundesliga.de hat er sich passenderweise die "Traditions-Ecke" im VIP-Bereich des Borussia Parks ausgesucht. Dort, wo er sich bei Spielen der Borussia regelmäßig mit alten Weggefährten trifft, lässt es sich gemütlich plaudern. Und Charly Stock hat einiges zu erzählen.

Als er 1962 im Alter von 26 Jahren aus Bad Wörishofen im Allgäu an den Niederrhein kam, gab es weder die Bundesliga noch den Begriff "Fohlenelf". Dieser entstand erst nach dem Aufstieg 1965 in die zwei Jahre zuvor gegründete höchste Spielklasse. Die Arbeitsbedingungen, die er am Bökelberg vorfand, waren spartanisch. Eine Massagebank voller Löcher, aus denen das Innere herausquoll, eine Decke, die eigentlich für Polizeipferde gedacht war, Puder statt Öl, erinnert er sich.

"Selbst Netzer hat mich gesucht"

Der beginnenden Erfolgsgeschichte der Borussia tat dies keinen Abbruch, im Gegenteil. Es sei eine glückliche Fügung gewesen, dass Spieler wie Günter Netzer, Jupp Heynckes oder Berti Vogts zusammengefunden haben. "Die Mannschaft hat sich damals so perfekt verstanden, wie heute die Bayern oder Borussia Dortmund. Es passte einfach alles", erklärt der 77-Jährige, der nicht nur die Muskeln der Spieler knetete, sondern ihnen auch bei seelischen Problemchen half. Professionelle Sportpsychologie, wie wir sie heute kennen, war damals noch ein Fremdwort.

"Ich habe durch meine Ruhe und Gelassenheit wohl sehr beruhigend gewirkt und bin deshalb von den Spielern gesucht worden. Sogar von Günter Netzer, der doch eigentlich souverän über den Dingen stand", so Stock, der selbst - wie er sagt - nie gegen den Ball getreten hat und sich aus dem Fußballerischen stets heraus gehalten hat. Vielmehr bekleidete er diverse Jobs, für die es heute einen ganzen Stab gibt, in Personalunion. So war er unter anderem für das Essen des Teams verantwortlich, assistierte bei organisatorischen Dingen und nahm auf Reisen die Zimmereinteilung im Hotel vor. Niemand war näher dran an der Mannschaft. Bei ihm waren die Spieler nicht nur medizinisch in guten Händen. Charly Stock wusste, wer wie tickt und stand vielen als väterlicher Freund zur Seite. Bis heute ist er mit vielen der damaligen Fohlen freundschaftlich verbunden.

Daumen drücken für Heynckes

Netzer, mit dem er auch all die Jahre im Bus zusammengesessen hatte, hat er kürzlich noch in der Schweiz besucht, genau wie Allan Simonsen in Dänemark. Intensiven Kontakt pflegen er und seine Frau mit Familie Heynckes. "Wir hatten mit Jupp eine Karriere-Abschluss-Besprechung. Er hat uns versprochen, nicht mehr ins Geschäft einzusteigen. Wenn er jetzt noch Welt-Trainer wird, hat er alles erreicht", hofft er auf eine weitere Auszeichnung für seinen Freund, der schon als Spieler wie ein Trainer gedacht habe.

Viele aufregende Partien hat Stock in fast drei Jahrzehnten aus Sicht des Betreuers erlebt. Wie das Pokalhalbfinale 1984 gegen Werder Bremen, in dem eine Tränengasbombe gezündet wurde. "Da musste ich allen Spielern, auch den gegnerischen, mit Schwämmen die Augen wieder frei machen". Oder das legendäre "Büchsenwurf-Spiel" gegen Inter Mailand. "Eine leere Cola-Dose wurde aufs Feld geworfen und der Schiedsrichter hatte plötzlich eine volle in der Hand", wundert er sich noch heute. Das Rückspiel in Italien sei aus Sicht des Masseurs das härteste Spiel gewesen, an das er sich erinnern kann. "Da haben wir richtig auf die Socken bekommen. Ein riesiges Lazarett. Fast alle Spieler saßen danach bei mir in der Praxis aufgereiht und mussten behandelt werden".

"Voronin hat sich vom Balkon abgeseilt"

Bundesliga-Aufstieg 1965, die Deutschen Meisterschaften in den Siebzigern, dazu zwei Triumphe im UEFA-Pokal, Stock hat alles mitgemacht und genossen. Besonders gern erinnert er sich an 1975, das letzte Jahr unter Hennes Weisweiler, mit dem Gewinn des dritten Meistertitels und dem Erfolg im UEFA-Pokal. Auch die Zeit danach habe ihren Reiz gehabt, auch wenn mit dem Gewinn des DFB-Pokals 1995 lediglich noch ein weiterer Titel dazu gekommen ist. "Ich habe den sehr erfolgreichen Jahren nicht nachgetrauert. Meine Arbeit ging weiter und ich war sehr zufrieden damit."

Am 12. Mai 1990 stand er beim 0:0 in Uerdingen zum letzten Mal am Spielfeldrand, den Notfallkoffer immer zur Hand und bereit bei Bedarf damit quer über den Platz zu spurten. Danach blieb er dem Verein bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2001 in verschiedenen Positionen, darunter als Sicherheits- und Doping-Beauftragter, erhalten. 1991 gründete er die Traditionsmannschaft "Weisweiler Elf" und bis 1997 leitete er das erste Jugend-Internat. Zur Aufgabe dieses Jobs habe ihn schließlich Internatsschüler Andriy Voronin gebracht. "Der hat sich abends hinten vom Balkon abgeseilt und ist in die Altstadt verschwunden. Ich sollte ihn kontrollieren, aber er war nicht zu bremsen. Und ich war schon über 60", sagt er schmunzelnd.  

Heynckes' Trikotsammlung kommt ins Museum

Stock hat nicht nur aktiv an Borussia Geschichte mitgewirkt, er hat es sich bis heute zur Aufgabe gemacht, Borussias Tradition zu bewahren. In all den Jahren als Masseur hatte er bereits eine riesige Sammlung an Erinnerungsstücken angehäuft, wie 60 Trikots von Heynckes' Gegenspielern in internationalen Partien, die er dem Verein zum 100-Jährigen Jubiläum vor 13 Jahren vermachte und die künftig im geplanten Museum zu bewundern sein sollen.

Charly Stocks Anekdoten aus dem Nähkästchen wären zudem freilich Stoff für ein interessantes Buch, doch davon will er lieber absehen. "Ich möchte niemanden in Verlegenheit bringen", sagt er. Als "Seelen-Masseur" unterliegt er ja wohl ohnehin der Schweigepflicht.

Markus Hoffmann